Rz. 83
In begründeten Verdachtsfällen von "corporate and financial malpractice" können gegen eine Ltd. staatliche Ermittlungen eingeleitet werden. Insgesamt darf jedoch nicht vergessen werden, dass solche Untersuchungen bei kleineren privaten Gesellschaften, die kein großes öffentliches Interesse finden, in der Praxis keine wesentliche Rolle spielen. Ermittlungsgegenstände sind z.B. die wahren finanziellen Interessen an Anteilen oder Transaktionen und damit möglicherweise versteckte Einflussnahmen auf die Gesellschaft; in diesem Falle können Anteile mit Beschränkungen und Verboten belegt ("eingefroren") werden, was sich auf die Ausübung des Stimmrechts, die Berechtigung zum Bezug von Dividenden und Anteilsübertragungen auswirkt. Mit ähnlichen Mitteln kann ermittelt werden, wem Anteile gehören bzw. an wen Anteile übertragen wurden.
Rz. 84
Neben der Finanzdienstleistungsaufsicht durch die Financial Conduct Authority (FCA) erfolgen Aufsichtsmaßnahmen durch das Department for Business, Energy & Industrial Strategy (BEIS).
Rz. 85
Untersuchungen werden vorrangig zu Beweiserhebungszwecken ausgeführt. Formen sind die confidential investigation und die investigation by inspectors. Rechtsgrundlagen finden sich in dem insoweit weiter anwendbaren CA 1985. Solche Untersuchungen können auf unterschiedlichste Anregungen hin eingeleitet werden: Grundlage kann entweder ein begründeter Antrag einer Mindestzahl von Gesellschaftern oder von Gesellschaftern, die zusammen mit ihren Anteilen ein bestimmtes Mindestkapital repräsentieren, oder ein Antrag der Gesellschaft sein. Weiterhin sind gerichtliche Anordnungen möglich. Auch durch Eigeninitiative des Secretary of State for Trade and Industry können Untersuchungen eingeleitet werden, nämlich wenn einer der gesetzlichen Eingriffstatbestände erfüllt ist, etwa zumindest der Verdacht auf betrügerische Machenschaften oder auf Benachteiligung der Gesellschaft oder der Gesellschafter vorliegt. Ein Antrag auf Durchführung von Ermittlungen kann auch von anderen Directorates oder Agencies innerhalb des BEIS kommen, wie dem Companies House oder dem Insolvency Service. Als Organisationen außerhalb des BEIS kommen z.B. die Bank of England oder die London Stock Exchange in Betracht. Schließlich kann selbst eine Person aus der Öffentlichkeit eine Untersuchung anregen. In einem Jahr werden für etwa 4.000 bis 5.000 Gesellschaften Ermittlungen beantragt, die jedoch nur auf einen begründeten Verdacht hin tatsächlich durchgeführt werden.
Rz. 86
Die Ermittlungen werden von Bediensteten des BEIS durchgeführt. Der Secretary of State kann in schwereren Fällen auch Inspektoren ernennen, die die Angelegenheiten der Gesellschaft erforschen und darüber berichten. Diese Inspektoren sind typischerweise erfahrene Rechtsanwälte in Großbritannien (senior barristers, Queen’s Counsels) oder Wirtschaftsprüfer (chartered accountants).
Rz. 87
Zur Erfüllung ihrer Aufgaben besitzen die Ermittler weit reichende Einsichts- und Auskunftsbefugnisse gegenüber Banken, Rechtsanwälten und Abschlussprüfern der Unternehmen; diese Befugnisse erstrecken sich auch auf berufliche Verschwiegenheitspflichten und das Bankgeheimnis. Der Ermittler erscheint zusammen mit einem Polizeibeamten und einem richterlichen Durchsuchungsbefehl unangemeldet vor den Geschäftsräumen der Gesellschaft. Der richterliche Durchsuchungsbefehl wird von einem Richter (Justice of the Peace) auf Antrag des Secretary of State erlassen.
Rz. 88
Eine Ltd. kann sich in solchen Verfahren auf einzelne Gewährleistungen in der EMRK (z.B. Art. 6, 10) berufen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Entscheidung Saunders gegen United Kingdom die drakonischen Ermittlungsbefugnisse der Inspektoren insoweit etwas eingeschränkt, als Aussagen, die im Rahmen solcher Untersuchungen von den Inspektoren erzwungen werden können, gegen die betreffende Person, die diese Aussagen gemacht hat bzw. machen musste, später zumindest nicht strafrechtlich verwendet werden können. Herr Saunders war ehemaliger Vorstandschef (chief executive) der Guinness plc und wurde verschiedener Verstöße im Zusammenhang mit der umstrittenen Übernahme von Distillers plc durch Guinness plc in der Mitte der achtziger Jahre schuldig gesprochen. Der Schuldspruch wurde vom House of Lords bestätigt. Die Anklage stützte sich während seiner strafrechtlichen Verfolgung vor allem auf Gesprächsprotokolle zwischen ihm und den Inspektoren. Er verklagte daraufhin die britische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstoßes gegen Art. 6 EMRK, welcher Justizgarantien für Beschuldigte ("nemo tenetur se ipsum accusare") sowie die Verankerung der Unschuldsvermutung enthält und von Großbritannien durch den Human Rights Act 1998 umgesetzt wurde. Auf den Richterspruch aus Straßburg hin wurden die diesbezüglichen Vorschriften durch den Youth Justice and Criminal Evidence Act 1999 angepasst. Im Fall Guinness plc wurden die Inspektoren im November 1986 eingesetzt, ihr Bericht wurde...