Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Art. 234 EG. Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsnorm sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der nationalen Verfassung. Nationale Regelung, nach der ein Zwischenverfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit Vorrang hat. Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Notwendigkeit einer Anknüpfung an das Unionsrecht. Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs
Beteiligte
Tenor
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Tribunal de première instance de Liège (Belgien) vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Belgien) mit Entscheidung vom 29. Oktober 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 2009, in dem Verfahren
Claude Chartry
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-J. Kasel sowie des Richters M. Ilešič und der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgenden
Entscheidungsgründe
Beschluss
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EU in seiner vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung und von Art. 234 EG.
Rz. 2
Es ergeht in einem Steuerrechtsstreit zwischen Herrn Chartry und dem belgischen Staat.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 26 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof (Moniteur belge vom 7. Januar 1989) in der insbesondere durch das Sondergesetz vom 12. Juli 2009 (Moniteur belge vom 31. Juli 2009) geänderten Fassung bestimmt:
„§ 1 Der Schiedshof trifft durch Entscheid Vorabentscheidungen zu Fragen betreffend:
…
3. die Verletzung durch ein Gesetz, ein Dekret oder eine in Artikel 134 der Verfassung erwähnten Regel der Artikel von Titel II ‚Die Belgier und ihre Rechte’ und der Art. 170, 172 und 191 der Verfassung,
…
§ 2 Wird eine solche Frage vor einem Gericht aufgeworfen, muss dieses den Schiedshof ersuchen, über diese Frage zu befinden.
Das Gericht ist dazu jedoch nicht verpflichtet:
…
2. wenn der Schiedshof bereits über eine Frage oder eine Klage mit identischem Gegenstand befunden hat.
…
§ 4 Wird vor einem Gericht hervorgehoben, dass ein Grundrecht, das auf ganz oder zum Teil ähnliche Weise durch eine Bestimmung von Titel II der Verfassung sowie durch eine Bestimmung des europäischen oder Völkerrechts gewährleistet ist, durch ein Gesetz, ein Dekret oder eine in Artikel 134 der Verfassung erwähnte Regel verletzt wird, ist das Gericht verpflichtet, dem Schiedshof zuerst die Vorabentscheidungsfrage betreffend die Vereinbarkeit mit der Bestimmung von Titel II der Verfassung zu stellen.
In Abweichung von Absatz 1 gilt die Verpflichtung, dem Schiedshof eine Vorabentscheidungsfrage zu stellen, nicht:
- in den in den Paragraphen 2 und 3 erwähnten Fällen,
…”
Rz. 4
Art. 28 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof lautet:
„Das Gericht, das die Vorabentscheidungsfrage gestellt hat, und jegliches andere Gericht, das in derselben Sache zu befinden hat, müssen für die Lösung der Streitsache, anlässlich deren die in Artikel 26 erwähnten Fragen gestellt worden sind, den vom Schiedshof erlassenen Entscheid einhalten.”
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsfrage
Rz. 5
Herr Chartry, der in Belgien wohnt, arbeitete als Informationsbeschaffer für eine auf die Verteidigung von Versicherten spezialisierte Gesellschaft mit Sitz in Belgien.
Rz. 6
Nach einer Überprüfung berichtigte die belgische Steuerverwaltung die von Herrn Chartry für die Steuerjahre 1994, 1995 und 1996 erklärten Gewinne und berechnete die von ihm für diese Jahre geschuldeten direkten Steuern neu. Die Steuernachzahlung für das Jahr 1994 war am 18. Februar 1997, die für das Jahr 1995 am 18. September 1997 und die für das Jahr 1996 am 25. August 1997 fällig.
Rz. 7
Herr Chartry legte am 11. Februar und 9. Oktober 1997 Einsprüche gegen die Steuernachzahlungsbescheide ein.
Rz. 8
Am 30. November und 7. Dezember 2001 wurden Herrn Chartry verjährungsunterbrechende Zahlungsaufforderungen zugestellt.
Rz. 9
Die Einsprüche von Herrn Chartry wurden mit Bescheid der Steuerverwaltung vom 17. Oktober 2007 größtenteils zurückgewiesen.
Rz. 10
Am 17. Januar 2008 erhob Herr Chartry Klage beim Tribunal de première instance de Liège. Er machte geltend, dass direkte Steuern nach belgischem Recht fünf Jahre nach dem Fälligkeitstag verjährten und dass in den fünf Jahren nach dem jeweiligen Fälligkeitstermin der ihm auferlegten Steuernachzahlungen keine Verjährungsunterbrechung im Sinne des Art. 2244 des belgischen Zivilgesetzbuchs eingetreten sei. Bezüglich der beiden Zahlungsaufforderungen, die ihm 2001 zugestellt worden waren, beruft er sich auf die Rechtsprechung der belgischen Cour de cassation, nach der eine Zahlungsaufforderung, die für eine bestrittene Steuerschuld zugestellt we...