Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Gleichbehandlung. Einkommensteuer. Nationale Rechtsvorschriften. Steuerbefreiung für Leistungen, die Menschen mit Behinderung erbracht werden. In einem anderen Mitgliedstaat bezogene Leistungen. Ausschluss. Unterschiedliche Behandlung
Normenkette
AEUV Art. 45
Beteiligte
Verfahrensgang
Tribunal de première instance de Liège (Belgien) (Beschluss vom 07.01.2019; Abl. EU 2019, Nr. C 103/17) |
Tenor
Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die vorschreibt, dass die Steuerbefreiung, die für Leistungen für Menschen mit Behinderung gilt, von der Voraussetzung abhängt, dass diese Leistungen von einer Einrichtung des betreffenden Mitgliedstaats gezahlt werden, und somit die von einem anderen Mitgliedstaat gezahlten Leistungen gleicher Art von dieser Befreiung ausschließt, auch wenn der Empfänger dieser Leistungen in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnhaft ist, ohne dafür Rechtfertigungen vorzusehen, was das vorlegende Gericht aber zu überprüfen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Erstinstanzliches Gericht Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Januar 2019, in dem Verfahren
BU
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und der Richter J. Malenovský und F. Biltgen (Berichterstatter),
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von BU, vertreten durch M. Levaux, avocat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 45 und 56 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BU und der belgischen Steuerverwaltung wegen der Besteuerung der von BU in den Niederlanden bezogenen Leistungen.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 38 Abs. 1 Unterabs. 4 des Code des impôts sur les revenus 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„§ 1 Befreit sind
…
(4) die Beihilfen, die Menschen mit Behinderung nach den einschlägigen Vorschriften aus der Staatskasse gezahlt werden”.
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage
Rz. 4
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die in den Vereinigten Staaten geboren wurde, lebt seit 1973 in Belgien und erwarb im Jahr 2009 die belgische Staatsbürgerschaft.
Rz. 5
1996 hatte sie in Belgien einen Unfall, als sie auf dem Weg zu ihrer Arbeit in Limburg in den Niederlanden war. Dieser Unfall führte dazu, dass sie berufsunfähig wurde, woraufhin sie im Jahr 2000 entlassen wurde.
Rz. 6
Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens zum Zeitpunkt ihres Unfalls in den Niederlanden arbeitete, fällt sie unter die niederländische Sozialversicherung und erhält seit damals Leistungen nach der Wet arbeidsongeschiktheid (WAO) (Gesetz über die Versicherung gegen Erwerbsunfähigkeit) (im Folgenden: WAO-Leistungen) und Leistungen aus dem Algemeen Burgerlijk Pensioenfond (ABP) (Rentenfonds für Beamte, der Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenrente umfasst) (im Folgenden: ABP-Leistungen).
Rz. 7
Mit Schreiben vom 23. August 2016 übermittelte die belgische Steuerverwaltung der Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Berichtigungsbeschluss zu ihrer Steuererklärung für natürliche Personen für das Steuerjahr 2014, wonach diese Leistungen als Rente bezogen würden und als solche in Belgien zu besteuern seien.
Rz. 8
Mit Schreiben vom 16. Dezember 2016 legte die Klägerin des Ausgangsverfahrens Einspruch gegen diesen Beschluss ein und trug vor, dass diese Leistungen in Belgien von der Steuer befreit seien, da die WAO-Leistungen keine Rente seien, sondern Leistungen für Menschen mit Behinderung ebenso wie die ABP-Leistungen Renten im Zusammenhang mit einer Behinderung seien.
Rz. 9
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens akzeptierte zwar in der Folge, dass die ABP-Leistungen in Belgien zu besteuern sind, wandte sich aber gegen ihre Einstufung durch die belgische Steuerverwaltung und hielt an ihrem Standpunkt fest, dass auf die WAO-Leistungen in Belgien keine Steuer anfalle.
Rz. 10
Mit Entscheidung vom 14. Juni 2017 wurde der Einspruch der Klägerin des Ausgangsverfahrens zurückgewiesen, da sie weder nachgewiesen habe, dass sie eine Behinderung habe, noch dass die in den Niederlanden bezogenen WAO-Leistungen Beihilfen für Menschen mit Behinderung seien. Die belgische Steuerverwaltung blieb daher bei der Einst...