Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen. Befreiung von der Ausgleichspflicht. Begriff ‚außergewöhnliche Umstände’. Streik von Flugbegleitern und Piloten. ‚Interne’ und ‚externe’. Umstände im Hinblick auf die Tätigkeit des ausführenden Luftfahrtunternehmens. Kein Eingriff in die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer sowie das Recht des Luftfahrtunternehmens auf Kollektivverhandlungen
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Art. 5 Abs. 3; Charta der Grundrehte der Europäishen Union Art. 12, 28
Beteiligte
Tenor
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass infolge des Streikaufrufs einer Gewerkschaft von Flugbegleitern und Piloten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens eingeleitete Streikmaßnahmen zur Durchsetzung der Forderungen dieser Arbeitnehmer nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände” im Sinne dieser Bestimmung fallen; ob Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern vorausgegangen sind, ist insoweit unerheblich.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2020, in dem Verfahren
EL,
CP
gegen
Ryanair DAC
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter N. Piçarra und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von EL und CP, vertreten durch Rechtsanwälte C. Jansen und M. Jansen,
- der Ryanair DAC, vertreten durch Rechtsanwältin S. Hensel,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Jespersen und M. Wolff als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Ferrand und A. Daniel als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Simonsson und W. Mölls als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den beiden Fluggästen EL und CP und dem Luftfahrtunternehmen Ryanair DAC wegen dessen Weigerung, an diese Fluggäste ungeachtet der Annullierung des von ihnen gebuchten Fluges eine Ausgleichszahlung zu leisten.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Sozialcharta
Rz. 3
Die am 18. Oktober 1961 in Turin im Rahmen des Europarats unterzeichnete und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierte Europäische Sozialcharta trat im Jahr 1999 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens, dem sie in seiner ursprünglichen Fassung, in seiner revidierten Fassung oder in beiden Fassungen beigetreten sind.
Rz. 4
Teil I Nr. 6 der Europäischen Sozialcharta bestimmt in seiner revidierten Fassung:
„Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Kollektivverhandlungen.”
Rz. 5
Art. 6 („Das Recht auf Kollektivverhandlungen”) des Teils II der Europäischen Sozialcharta sieht u. a. vor:
„Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, …
anerkennen [die Vertragsparteien]
Rz. 4
das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.”
Unionsrecht
Rz. 6
In den Erwägungsgründen 1, 4, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:
„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen Union] im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
…
(4) Die [Union] sollte deshalb die mit der [Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen...