Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Anwendungsbereich. Automatischer Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats vor dem Beitritt dieses Staats zur Union. Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs
Normenkette
AEUV Art. 20-21; Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 53 Abs. 2s
Beteiligte
Steiermärkische Landesregierung |
Tenor
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 3. Februar 2021 vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 3. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Februar 2021, in dem Verfahren
WY
gegen
Steiermärkische Landesregierung
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) und des Richters J.-C. Bonichot,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von WY, vertreten durch Rechtsanwalt M. Fister,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und A. Kögl als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WY und der Steiermärkischen Landesregierung (Österreich) wegen des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft von WY.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 20 Abs. 1 AEUV lautet: „Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.”
Rz. 4
Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
Österreichisches Recht
Rz. 5
§ 27 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die österreichische Staatsbürgerschaft (StbG) (BGBl. Nr. 311/1985) sieht vor:
„Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.”
Rz. 6
In Art. 28 StbG heißt es:
„(1) Einem Staatsbürger ist für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit (§ 27) die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft zu bewilligen, wenn
- sie wegen der von ihm bereits erbrachten und von ihm noch zu erwartenden Leistungen oder aus einem besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Interesse der Republik liegt, und – soweit Gegenseitigkeit besteht – der fremde Staat, dessen Staatsangehörigkeit er anstrebt, der Beibehaltung zustimmt sowie die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Z 2 bis 6 und 8 sinngemäß erfüllt sind, oder
- es im Fall von Minderjährigen dem Kindeswohl entspricht.
(2) Dasselbe gilt für Staatsbürger, wenn sie die Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben haben und in ihrem Privat- und Familienleben ein für die Beibehaltung besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorliegt.
…”
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 7
WY, der türkischer Herkunft ist, wurde mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom 31. März 1992 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. In diesem Zusammenhang wurde den österreichischen Behörden eine Entlassungsurkunde der Republik Türkei vorgelegt, aus der hervorging, dass WY ab dem Tag der Ausstellung dieser Urkunde die türkische Staatsangehörigkeit verloren hatte.
Rz. 8
Nachdem das Bundesministerium für Inneres (Österreich) im Jahr 2017 eine türkische „Wählerevidenzliste”, auf der der Name von WY aufschien, an die Steiermärkische Landesregierung weitergeleitet hatte, leitete diese ein Feststellungsverfahren zur Klärung der Staatsangehörigkeit ein.
Rz. 9
Mit Schreiben vom 27. Juni 2017 forderte die Steiermärkische Landesregierung WY auf, ihr einen aktuellen türkischen Personenstandsregisterauszug mit staatsbürgerschaftsrelevanten Daten zu übermitteln, um festzustellen, ob er die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben hatte.
Rz. 10
WY teilte der Steiermärkischen Landesregierung mit, dass er sich außer Stande sehe, den geforderten Personenstandsregisterauszug beizubringen, und übermittelte schließlich den Personenstandsregisterauszug seiner Tochter, der auch Angaben zu seiner Staatsangehörigkeit enthielt, aus d...