Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Antwort, die klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Vom Ausstellungsmitgliedstaat zu gewährende Garantien. Ziel der Resozialisierung. Drittstaatsangehörige, die im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats ihren Wohnsitz haben. Gleichbehandlung

 

Normenkette

Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 5 Nr. 3; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 20

 

Beteiligte

PY (Ressortissant d’un État tiers dans l’État membre d’exécution)

PY

 

Tenor

1.Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in Verbindung mit dem in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats absolut und automatisch daran hindert, die Übergabe eines Drittstaatsangehörigen, der im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats seinen Wohnsitz hat, davon abhängig zu machen, dass diese Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

2.Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI

ist dahin auszulegen, dass

die vollstreckende Justizbehörde für die Beurteilung, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats seinen Wohnsitz hat, an die in dieser Bestimmung vorgesehene Bedingung zu knüpfen ist, in einer Gesamtschau alle konkreten Faktoren, die die Situation des Drittstaatsangehörigen kennzeichnen, zu würdigen hat, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängt wird, im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Erhöhung seiner Resozialisierungschancen nach Vollstreckung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beitragen würde. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-636/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d’appello di Lecce (Berufungsgericht Lecce, Italien) mit Entscheidung vom 28. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Oktober 2022, in einem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

PY,

Beteiligte:

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Lecce,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters M. Safjan in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) sowie von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Italien, den der Procureur de la République près le tribunal judiciaire de Rennes (Staatsanwaltschaft beim Gericht erster Instanz Rennes, Frankreich) am 23. Mai 2022 zum Zwecke der Strafverfolgung gegen PY ausgestellt hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2002/584

Rz. 3

Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, ...

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