Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Ziel der Resozialisierung. Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben. Gleichbehandlung

 

Normenkette

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 20

 

Beteiligte

O. G. (Mandat d’arrêt européen à l’encontre d’un ressortissant d’un État tiers)

O. G.

 

Tenor

1.Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit dem in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz

wie folgt auszulegen:

Diese Bestimmung steht einer Regelung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses entgegen, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann.

2.Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584

ist wie folgt auszulegen:

Die vollstreckende Justizbehörde hat für die Beurteilung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, abzulehnen ist, in einer Gesamtschau alle konkreten Faktoren zu würdigen, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Erhöhung seiner Resozialisierungschancen nach Vollstreckung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-700/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 18. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 22. November 2021, in einem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

O. G.,

Beteiligter:

Presidente del Consiglio dei Ministri,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und E. Regan, der Kammerpräsidentinnen L. S. Rossi und M. L. Arastey Sahún sowie der Richter J.-C. Bonichot, S. Rodin, I. Jarukaitis, N. Jääskinen, M. Gavalec und Z. Csehi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, Avvocato dello Stato,
  • –        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
  • –        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Werni als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) sowie von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen O. G. zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2002/584

Rz. 3

Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚...

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