Entscheidungsstichwort (Thema)

Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Antwort, die klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann. Zuständigkeit, anzuwendendes Recht, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses. Subsidiäre Zuständigkeit. Pflicht zur Befolgung der Vorgaben eines übergeordneten Gerichts

 

Normenkette

Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Verordnung (EU) Nr. 650/2012 Art. 10 Abs. 1 Buchst. a; AEUV Art. 267

 

Beteiligte

Jurtukała

PA

MO

 

Tenor

1.Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses

ist dahin auszulegen, dass

die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anzuwenden ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

2.Das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV,

ist dahin auszulegen, dass

es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-55/23 [Jurtukała](

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Szczecin – Prawobrzeże i Zachód w Szczecinie (Rayongericht Szczecin [Stettin] – Szczecin-Rechtes Ufer und -West, Polen) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 2023, in dem Verfahren

PA,

Beteiligte:

MO,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107, berichtigt in ABl. 2012, L 344, S. 3, ABl. 2013, L 41, S. 16, ABl. 2013, L 60, S. 140, und ABl. 2014, L 363, S. 186) und von Art. 267 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines auf Antrag von PA eingeleiteten Gerichtsverfahrens zur Feststellung der Erben ihres Bruders, der am 9. Mai 2020 in Hamburg (Deutschland) verstorben ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 23 und 30 der Verordnung Nr. 650/2012 heißt es:

„(23)      In Anbetracht der zunehmenden Mobilität der Bürger sollte die Verordnung zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege in der [Europäischen] Union und einer wirklichen Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt wird, als allgemeinen Anknüpfungspunkt zum Zwecke der Bestimmung der Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes vorsehen. …

(30)      Um zu gewährleisten, dass die Gerichte aller Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit in Bezug auf den Nachlass von Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt ihres Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatten, auf derselben Grundlage ausüben können, sollte diese Verordnung die Gründe, aus denen diese subsidiäre Zuständigkeit ausgeübt werden kann, abschließend und in einer zwingenden Rangfolge aufführen.“

Rz. 4

Kapitel II („Zuständigkeit“) dieser Verordnung umfasst u. a. die Art. 4 bis 10 und 15.

Rz. 5

Art. 4 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 650/2012 lautet:

„Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

Rz. 6

Art. 5 („Gerichtsstandsvereinbarung“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Ist das vom Erblasser nach Artikel 22 zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählte Recht das Recht eines Mitgliedstaats, so können die betroffenen Parteien vereinbaren, dass für Entscheidungen in Erbsachen ausschließlich ein Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig sein solle...

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