Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr. Beschränkungen. Glücksspiele. Duales System der Organisation des Marktes. Monopol für Lotterien und Spielbanken. Vorherige Bewilligung zum Betrieb von Glücksspielautomaten. Werbepraktiken des Monopolinhabers. Beurteilungskriterien. Verfassungsrechtsprechung, mit der die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wurde
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; AEUV Art. 56
Beteiligte
Landespolizeidirektion Steiermark |
Tenor
1. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einem dualen System der Organisation des Glücksspielmarkts nicht allein deshalb entgegensteht, weil die Werbepraktiken des Monopolisten für Lotterien und Spielbanken darauf abzielen, zu aktiver Teilnahme an den Spielen anzuregen, etwa indem das Spiel verharmlost wird, ihm wegen der Verwendung der Einnahmen für im Allgemeininteresse liegende Aktivitäten ein positives Image verliehen wird oder seine Anziehungskraft durch zugkräftige Werbebotschaften, die bedeutende Gewinne verführerisch in Aussicht stellen, erhöht wird.
2. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats verpflichtet, eine gegen Art. 56 AEUV verstoßende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, und zwar auch dann, wenn ein höheres Gericht eben dieses Mitgliedstaats diese Bestimmung als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2019, in dem Verfahren
Fluctus s. r. o.,
Fluentum s. r. o.,
KI
gegen
Landespolizeidirektion Steiermark,
Beteiligte:
Finanzpolizei Team 96,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Kumin sowie der Richter T. von Danwitz und P. G. Xuereb (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Fluctus s. r. o. und der Fluentum s. r. o., vertreten durch Rechtsanwalt P. Ruth,
- von KI, vertreten durch die Rechtsanwälte N. Aquilina und T. Talos,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, F. Koppensteiner und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaeminck und R. Verbeke, avocats,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. G. Marrone, avvocato dello Stato,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Pimenta, M. J. Marques, A. Silva Coelho und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Malferrari, R. Pethke und L. Armati als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Fluctus s. r. o., der Fluentum s. r. o. und KI auf der einen Seite und der Landespolizeidirektion Steiermark (Österreich) auf der anderen Seite über die Frage, ob Bescheide über die Beschlagnahme von Glücksspielautomaten und Straferkenntnisse wegen Verstoßes gegen die österreichischen Glücksspielvorschriften rechtmäßig sind.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
§ 2 des Glücksspielgesetzes vom 28. November 1989 (BGBl. Nr. 620/1989) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Glücksspielgesetz) sieht in seinen Abs. 3 und 4 vor:
„(3) Eine Ausspielung mit Glücksspielautomaten liegt vor, wenn die Entscheidung über das Spielergebnis nicht zentralseitig, sondern durch eine mechanische oder elektronische Vorrichtung im Glücksspielautomaten selbst erfolgt. Der Bundesminister für Finanzen ist ermächtigt, durch Verordnung bau- und spieltechnische Merkmale von Glücksspielautomaten näher zu regeln sowie Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten festzulegen. Glücksspielautomaten gemäß § 5 sind verpflichtend an die Bundesrechenzentrum GmbH elektronisch anzubinden. …
(4) Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.”
Rz. 4
§ 3 („Glücksspielmonopol”) dieses Gesetzes bestimmt:
„Das Recht zur Durchführung von Glücksspielen ist, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt wird, dem Bund vorbehalten (Glücksspielmonopol).”
Rz. 5
§ 4 („Ausnahmen aus dem Glücksspielmonopol”) dieses...