Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Begriff ‚wesentliche Unterlagen’. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Anwendungsbereich. Fehlende Umsetzung in nationales Recht. Unmittelbare Wirkung. Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung. Verstoß gegen die Bewährungsauflagen. Unterbliebene Übersetzung wesentlicher Unterlagen und Fehlen eines Dolmetschers bei ihrer Erstellung. Widerruf der Strafaussetzung. Keine Übersetzung der den Widerruf betreffenden Verfahrenshandlungen. Folgen für die Gültigkeit des Widerrufs. Mit relativer Nichtigkeit geahndeter Verfahrensmangel
Normenkette
Richtlinie 2010/64/EU Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; EMRK Art. 6; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47, 48 Abs. 2; Richtlinie 2012/13/EU Art. 3 Abs. 1 Buchst. d
Beteiligte
Tenor
Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sowie Art. 3 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem Grundsatz der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der die Verletzung der in diesen Richtlinienbestimmungen vorgesehenen Rechte von dem durch diese Rechte Begünstigten innerhalb einer bestimmten Ausschlussfrist geltend gemacht werden muss, entgegenstehen, wenn diese Frist zu laufen beginnt, noch bevor der Betroffene in einer Sprache, die er spricht oder versteht, zum einen über Bestehen und Umfang seines Rechts auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen und zum anderen über Existenz und Inhalt der fraglichen wesentlichen Unterlagen sowie die mit ihnen verbundenen Wirkungen unterrichtet wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal da Relação de Évora (Berufungsgericht Évora, Portugal) mit Entscheidung vom 8. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. April 2022, in dem Strafverfahren
TL,
Beteiligter:
Ministério Público,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts und des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben von Richtern der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) und des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von TL, vertreten durch L. C. Esteves, Advogado,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Almeida, P. Barros da Costa und C. Chambel Alves als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Rechena und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 bis 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1) sowie von Art. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen einer Streitigkeit zwischen TL und dem Ministério Público (Staatsanwaltschaft, Portugal) über die Folgen des fehlenden Beistands eines Dolmetschers und der unterbliebenen Übersetzung verschiedener Dokumente, die das gegen TL geführte Strafverfahren betreffen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2010/64
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5 bis 7, 9, 14, 17, 22 und 33 der Richtlinie 2010/64 heißt es:
„(5) In Artikel 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] und in Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Verteidigungsrechte. Diese Richtlinie achtet die genannten Rechte und sollte entsprechend umgesetzt werden.
(6) Zwar haben alle Mitgliedstaaten die EMRK unterzeichnet, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dadurch allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten hergestellt wird.
(7) Die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens erfordert eine kohärentere Umsetzung der in Artikel 6 EMRK veranker...