Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz personenbezogener Daten. Rechtmäßigkeit der Verarbeitung. Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens. Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und Schutz von Gerichtsverfahren. Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche. Zu erfüllende Anforderungen. Berücksichtigung des Interesses betroffener Personen. Abwägung der widerstreitenden Interessen. Datenminimierung. Recht auf Schutz der Privatsphäre. Recht auf Schutz personenbezogener Daten. Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
EUVO 679/2016 Art. 5, 6 Abs. 3-4, Art. 23 Abs. 1 Buchst. f., Buchst. j; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 7-8, 47
Beteiligte
Tenor
1.Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)
ist dahin auszulegen, dass
diese Vorschrift im Rahmen eines Zivilgerichtsverfahrens auf die Vorlegung eines Personalverzeichnisses als Beweismittel anwendbar ist, das personenbezogene Daten Dritter enthält, die hauptsächlich zum Zwecke der Steuerprüfung erhoben wurden.
2.Die Art. 5 und 6 der Verordnung 2016/679
sind dahin auszulegen, dass
das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob die Vorlegung eines Dokuments mit personenbezogenen Daten anzuordnen ist, verpflichtet ist, die Interessen der betroffenen Personen zu berücksichtigen und sie je nach den Umständen des Einzelfalls, der Art des betreffenden Verfahrens und unter gebührender Berücksichtigung der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, sowie insbesondere derjenigen Anforderungen abzuwägen, die sich aus dem Grundsatz der Datenminimierung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO ergeben.
Tatbestand
In der Rechtssache C-268/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Högsta domstol (Oberstes Gericht, Schweden) mit Entscheidung vom 15. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2021, in dem Verfahren
Norra Stockholm Bygg AB
gegen
Per Nycander AB,
Beteiligte:
Entral AB,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Norra Stockholm Bygg AB, vertreten durch H. Täng Nilsson und E. Wassén, Advokater,
- – der Per Nycander AB, vertreten durch P. Degerfeldt und V. Hermansson, Advokater,
- – der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Sawicka als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, M. Gustafsson und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Oktober 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Norra Stockholm Bygg AB (im Folgenden: Fastec) und der Per Nycander AB (im Folgenden: Nycander) wegen eines Antrags auf Offenlegung des elektronischen Personalverzeichnisses von Fastec, die für Nycander Arbeiten durchgeführt hatte, um die Kosten der von Nycander zu zahlenden Arbeiten zu bestimmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 20, 26, 45 und 50 DSGVO heißt es:
„(1) Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht. Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sowie Artikel 16 Absatz 1 [AEUV] hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
(2) Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthal...