Entscheidungsstichwort (Thema)
SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER. Leistungen. Wohnortklauseln. Aufhebung, Umfang und Grenzen. Alters- und Todesfallversicherung. Besonderheiten bei der Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften über die allgemeine Altersversicherung. Berücksichtigung von vor dem 1. Januar 1957 gelegenen Zeiten, in bestimmten Fällen an eine Wohnortvoraussetzung gebunden. Zulässigkeit (Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 10 Absatz 1 und anhang VI Anschnitt J Nr. 2
Leitsatz (amtlich)
Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 über die Aufhebung der Wohnortklauseln soll das Recht des Betroffenen darauf sichern, Leistungen der sozialen Sicherheit auch nach der Verlegung seines Wohnorts aus einem Mitgliedstaat in einen anderen zu erhalten, und die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer dadurch fördern, daß die Betroffenen vor den Nachteilen geschützt werden, die sich aus einer solchen Verlegung des Wohnorts ergeben könnten. Diese Zielsetzung erfordert, daß der Schutz auch eine Vergünstigung erfasst, die, obgleich sie in einer Sonderregelung getroffen ist, auf eine Erhöhung des Rentenbetrags hinausläuft, auf den der Berechtigte sonst Anspruch hätte.
Die Regel des Artikels 10 kann jedoch auf ein System der allgemeinen Altersversicherung wie dasjenige der Niederlande, nach dem das Wohnen im Gebiet dieses Staates einzige Voraussetzung dieser Versicherung ist, nicht uneingeschränkt angewandt werden. Aus diesem Grunde stellt Anhang VI Abschnitt „Niederlande” Nr. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 besondere Regeln für die Anwendung des Grundsatzes der Aufhebung der Wohnortklauseln auf dieses System auf, unter anderem für die Berücksichtigung von Zeiten vor dem 1. Januar 1957 als Versicherungszeiten für Personen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Vor dem Hintergrund dieser Vorschriften steht Artikel 10 Absatz 1 daher einer Vorschrift des einschlägigen niederländischen Rechts nicht entgegen, wonach der Anspruch auf die Übergangsvergünstigungen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften dem Betroffenen allein deswegen abgesprochen werden kann, weil er nicht im Gebiet dieses Staates wohnt.
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 10 Abs. 1; EWGV 1408/71 Anhang VI Absch. J Nr. 2
Beteiligte
Bestuur van de Sociale Verzekeringsbank |
Tenor
Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, daß eine nationale Vorschrift mit ihm nicht unvereinbar ist, wonach der Anspruch auf die Übergangsvergünstigungen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften dem Betroffenen allein deswegen abgesprochen werden kann, weil er nicht im Gebiet des Staates wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat, betrachtet man die Tatsache, daß in Anhang VI der Verordnung für Personen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, eine besondere Regelung über die Berücksichtigung von Zeiten vor dem 1. Januar 1957 als Versicherungszeiten aufgenommen worden ist.
Gründe
1 Der Raad van Beröp Amsterdam hat mit Beschluß vom 17. August 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Oktober 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 10 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu – und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6), insbesondere ihres Anhangs VI Abschnitt „Niederlande” Nr. 2 Buchstaben a und f, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem vor dem genannten Gericht anhängigen Rechtsstreit zwischen der deutschen Staatsangehörigen E. M. Winter-Lutzins und dem Vorstand der Sociale Verzekeringsbank (im folgenden: SVB) wegen der Anwendung der Algemene Ouderdomswet (niederländisches Gesetz über die allgemeine Altersversicherung, im folgenden: AOW) bei der Berechnung der Frau Winter-Lutzins zustehenden Altersrente.
3 Die AOW führte eine allgemeine Regelung der Altersversicherung ein, der alle in den Niederlanden wohnhaften Personen angeschlossen sind. Die Höhe der Altersrente hängt von der Anzahl der Versicherungsjahre ab, die zwischen dem 15. und dem 65. Lebensjahr zurückgelegt wurden. Die AOW enthält eine Übergangsregelung, die es unter bestimmten Voraussetzungen gestattet, Jahre zwischen dem 15. Lebensjahr des Versicherten und dem 1. Januar 1957, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes, den Versicherungsjahren nach der AOW gleichzustellen (im folgenden: Übergangsregelung). Ohne diese Übergangsregelung hätte niemand vor dem Jahr 2007 eine AOW-Rente zum vollen Satz von 100 % verlangen können, da die Rente 2 % eines Mindestlohns je Versicherungsjahr ausmacht.
4 Zu den Voraussetzungen für diese Gleichstellung gehört gemäß Artikel 55 Absatz 1 AOW, daß der Versicherte nach seinem 59. Lebensjahr sechs Jahre mit oder ohne Unterbrechung in den Niederlanden gewohnt hat (im folgenden 6-Jahres-Wohnerfordernis), sowie gemä...