Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Haftung der Luftfahrtunternehmen für Tod oder Körperverletzungen der Fluggäste. Begriff ‚Unfall’, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde. Beim Aussteigen erlittene Körperverletzung. Haftungsbefreiung des Luftfahrtunternehmens. Begriff ‚unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung’, die den ‚Schaden’ ‚sei es auch nur fahrlässig, … verursacht oder dazu beigetragen hat’. Sturz eines Fluggasts, der sich nicht am Handlauf einer mobilen Ausstiegstreppe festgehalten hat
Normenkette
Übereinkommen von Montreal Art. 17 Abs. 1, Art. 20
Beteiligte
Tenor
1. Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass eine Situation, in der ein Fluggast aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten mobilen Treppe stürzt und verletzt wird, unter den Begriff „Unfall” im Sinne dieser Bestimmung fällt, und zwar auch dann, wenn das betreffende Luftfahrtunternehmen hierbei nicht gegen seine Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten verstoßen hat.
2. Art. 20 Satz 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass ein Luftfahrtunternehmen bei einem Unfall, der einem Fluggast einen Schaden verursacht hat und bei dem Letzterer aus unbestimmtem Grund auf einer für den Ausstieg der Fluggäste eines Luftfahrzeugs bereitgestellten Treppe gestürzt ist, nur insoweit von seiner Haftung gegenüber diesem Fluggast befreit werden kann, als dieses Luftfahrtunternehmen in Anbetracht sämtlicher Umstände, unter denen dieser Schaden eingetreten ist, gemäß den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und vorbehaltlich der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nachweist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung dieses Fluggasts, sei es auch nur fahrlässig, den diesem entstandenen Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) mit Entscheidung vom 15. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2020, in dem Verfahren
JR
gegen
Austrian Airlines AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von JR, vertreten durch Rechtsanwalt F. Raffaseder,
- der Austrian Airlines AG, vertreten durch Rechtsanwalt C. Krones,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, K. Simonsson und G. Wilms als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und Art. 20 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), das in Bezug auf die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten ist.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JR und der Austrian Airlines AG, einem Luftfahrtunternehmen, über eine von JR erhobene Klage auf Schadenersatz wegen Körperverletzungen, die durch ihren Sturz während des Aussteigens nach einem von diesem Luftfahrtunternehmen durchgeführten Flug verursacht wurden.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
In den Abs. 3 und 5 der Präambel des Übereinkommens von Montreal heißt es:
„[Die Vertragsstaaten erkennen die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes… nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [an];
…
… gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel …, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen”.
Rz. 4
Art. 17 („Tod und Körperverletzung des Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck”) dieses Über...