Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Freizuegigkeit. Beschaeftigung in der oeffentlichen Verwaltung. Vertragsverletzungsverfahren. Vorverfahren. Zweck. Dem Mitgliedstaat gesetzte Fristen. Erfordernis angemessener Fristen. Beurteilungskriterien. Ausnahmen. Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Öffentliche Bereiche Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Strassen- und Schienenverkehr, Post- und Fernmeldewesen sowie Versorgungsdienste für Wasser, Gas und Elektrizität. Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zu den Stellen, die keine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder an der Wahrung der allgemeinen Belange des Staates mit sich bringen. Unzulässigkeit. Rechtfertigung. Schutz der nationalen Identität
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens soll das vorprozessuale Verfahren dem betroffenen Mitgliedstaat zum einen Gelegenheit geben, seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, zum anderen, sich gegen die Rügen der Kommission wirkungsvoll zu verteidigen. Aus diesen beiden Gründen ist die Kommission verpflichtet, den Mitgliedstaaten eine angemessene Frist einzuräumen, um auf das Aufforderungsschreiben zu antworten und einer mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen oder gegebenenfalls ihre Verteidigung vorzubereiten. Ob die festgesetzte Frist angemessen ist, ist dabei im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen.
So kann eine Frist von vier Monaten, die einem Mitgliedstaat gesetzt wird, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission nachzukommen, nicht als unangemessen bezeichnet werden, wenn diesem Mitgliedstaat der Standpunkt der Kommission bei Empfang des Aufforderungsschreibens seit beinahe drei Jahren bekannt war und im übrigen diese Frist dem Doppelten der Frist entspricht, die die Kommission üblicherweise gewährt.
2. Ein Mitgliedstaat, der in den öffentlichen Bereichen Forschung, Gesundheitswesen, Strassen- und Schienenverkehr, Post- und Fernmeldewesen sowie in den Versorgungsdiensten für Wasser, Gas und Elektrizität den Besitz seiner Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung des Zugangs auch zu anderen Stellen für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst als denjenigen macht, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind, verstösst gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 des Vertrages und aus Artikel 1 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft. Sind die Stellen in diesen Bereichen nämlich im allgemeinen von den spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung weit entfernt, kann es der Umstand, daß bestimmte Stellen in diesen Bereichen unter Artikel 48 Absatz 4 des Vertrages fallen können, nicht rechtfertigen, daß ein Mitgliedstaat allgemein für sämtliche dieser Stellen ein Staatsangehörigkeitserfordernis aufstellt.
In einem Bereich wie demjenigen des Bildungswesens kann der Ausschluß der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten von sämtlichen Stellen dieses Bereiches nicht mit Erwägungen des Schutzes der nationalen Identität gerechtfertigt werden, denn dieses Interesse, dessen Schutz berechtigt ist, wie Artikel F Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union anerkennt, kann durch andere Mittel als den allgemeinen Ausschluß gewahrt werden, und die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten müssen jedenfalls ebenso wie die eigenen Staatsangehörigen alle Einstellungsvoraussetzungen, insbesondere im Hinblick auf die Ausbildung, die Erfahrung und die Sprachkenntnisse, erfüllen.
Normenkette
EWGVtr Art. 169, 48; Vertrag über die Europäische Union Art. F Abs. 1; EWGV 1612/68 Art. 1
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Tenor
1. Das Großherzogtum Luxemburg hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 EG-Vertrag und aus Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft verstossen, daß es die luxemburgische Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung des Zugangs auch zu anderen Stellen für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst als denjenigen gemacht hat, die in den öffentlichen Bereichen Forschung, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Strassen- und Schienenverkehr, Post- und Fernmeldewesen und Versorgungsdienste für Wasser, Gas und Elektrizität eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind.
2. Das Großherzogtum Luxemburg trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 17. Dezember 1993 bei der Kan...