Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie 85/374/EWG. Haftung für fehlerhafte Produkte. Art. 3 und 11. Unzutreffende Qualifizierung als ‚Hersteller’. Gerichtliches Verfahren. Antrag, den ursprünglich Beklagten durch den Hersteller zu ersetzen. Ablauf der Verjährungsfrist
Beteiligte
Tenor
Art. 11 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die während eines gerichtlichen Verfahrens einen Beklagtenwechsel zulässt, entgegensteht, soweit sie so angewandt wird, dass ein Hersteller im Sinne von Art. 3 der Richtlinie nach Ablauf der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist als Beklagter in einem während dieser Frist gegen eine andere Person eingeleiteten gerichtlichen Verfahren in Anspruch genommen werden kann.
Jedoch ist Art. 11 der Richtlinie 85/374 einerseits so auszulegen, dass das nationale Gericht in Fällen, in denen es feststellt, dass tatsächlich der Hersteller des fraglichen Produkts bestimmt hat, dass es in den Verkehr gebracht wird, nicht durch diese Vorschrift daran gehindert ist, in dem Gerichtsverfahren, das innerhalb der in dieser Vorschrift genannten Frist gegen die hundertprozentige Tochtergesellschaft des Herstellers im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie eingeleitet worden ist, davon auszugehen, dass diese Tochtergesellschaft durch diesen Hersteller ersetzt werden kann.
Andererseits ist Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 85/374 so auszulegen, dass in den Fällen, in denen der durch ein als fehlerhaft angesehenes Produkt Geschädigte den Hersteller dieses Produkts bei verständiger Betrachtung nicht feststellen konnte, bevor er seine Ansprüche gegenüber seinem Lieferanten geltend machte, dieser Lieferant namentlich für die Zwecke des Art. 11 der Richtlinie als „Hersteller” zu behandeln ist, wenn er dem Geschädigten nicht von sich aus und ohne Säumen den Hersteller oder seinen eigenen Lieferanten benannt hat, was das nationale Gericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zu prüfen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom House of Lords (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 11. Juni 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2008, in dem Verfahren
Aventis Pasteur SA
gegen
OB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts (Berichterstatter) und E. Levits sowie der Richter C. W. A. Timmermans, A. Rosas, A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský, U. Lõhmus, A. Ó Caoimh und J.-J. Kasel,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Aventis Pasteur SA, vertreten durch G. Leggatt, QC, im Beistand von P. Popat, Barrister,
- von OB, vertreten durch S. Maskrey, QC, im Beistand von H. Preston, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wilms als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. L 210, S. 29) in der durch die Richtlinie 1999/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Mai 1999 (ABl. L 141, S. 20) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 85/374).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Aventis Pasteur SA (im Folgenden: APSA), einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, und OB über das Inverkehrbringen eines angeblich fehlerhaften Impfstoffs.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1, 10, 11 und 13 der Richtlinie 85/374 lauten:
„Eine Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit seiner Produkte verursacht worden sind, ist erforderlich, weil deren Unterschiedlichkeit den Wettbewerb verfälschen, den freien Warenverkehr innerhalb des Gemeinsamen Marktes beeinträchtigen und zu einem unterschiedlichen Schutz des Verbrauchers vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch ein fehlerhaftes Produkt führen kann.
…
Eine einheitlich bemessene Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche liegt sowohl im Interesse des Geschädigten als auch des Herstellers.
Produkte nutzen sich im Laufe der Zeit ab, es werden strengere Sicherheitsnormen entwickelt, und die Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik schreiten fort. Es wäre daher unbillig, den Hersteller zeitlich unbegrenzt für Mängel seiner Produkte haftbar zu machen. Seine Haftung hat somit nach einem angemessenen ...