Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorrang des Gemeinschaftsrechts, Nationale Vorschrift, die die Bestandskraft als Vorrang vor Gemeinschaftsrecht regelt
Leitsatz (amtlich)
Das Gemeinschaftsrecht steht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegen, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. F; EGVtr
Beteiligte
Amministrazione dell Economia e delle Finanze |
Fallimento Olimpiclub Srl |
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Vorrang des Gemeinschaftsrechts ‐ Vorschrift des nationalen Rechts, in der der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist“
In der Rechtssache C-2/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 10. Oktober 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Januar 2008, in dem Verfahren
Amministrazione dell’Economia e delle Finanze,
Agenzia delle Entrate
gegen
Fallimento Olimpiclub Srl
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), P. Kūris, L. Bay Larsen und der Richterin C. Toader,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: R. şereŞ, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Fallimento Olimpiclub Srl, vertreten durch Rechtsanwalt G. Tinelli,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili und W. Ferrante, avvocati dello Stato,
‐ der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Afonso als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. März 2009
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft in einer Mehrwertsteuerstreitigkeit.
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Fallimento Olimpiclub Srl (Olimpiclub Srl im Konkurs, im Folgenden: Olimpiclub) und der Amministrazione dell’Economia e delle Finanze (Wirtschafts- und Finanzverwaltung, im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen vier an Olimpiclub gerichteter Mehrwertsteuer-Berichtigungsbescheide für die Veranlagungsjahre 1988‐1991.
Nationales Recht
Rz. 3
Art. 2909 („Rechtskraft“) des italienischen Zivilgesetzbuchs (Codice civile) sieht Folgendes vor:
„In rechtskräftigen Urteilen enthaltene Feststellungen sind für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend.“
Rz. 4
Dieser Artikel wurde von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) in ihrem Urteil Nr. 13916/06 wie folgt ausgelegt:
„… wenn zwei Verfahren zwischen denselben Parteien dasselbe Rechtsverhältnis betreffen und eines von ihnen durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung beendet wurde, stehen die in ihr getroffenen Feststellungen zur Rechtslage oder zur Lösung von Sach- und Rechtsfragen, die einen für beide Rechtssachen grundlegenden Punkt betreffen und somit die notwendige logische Prämisse für die im Tenor des Urteils enthaltene Entscheidung bilden, einer nochmaligen Prüfung derselben, nunmehr geklärten Rechtsfrage auch dann entgegen, wenn das zweite Verfahren andere Ziele als die verfolgt, die den Gegenstand des ersten Verfahrens und das dortige Begehren bildeten.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 5
Olimpiclub, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Geschäftszweck der Bau und Betrieb von Sporteinrichtungen ist, ist Eigentümerin einer Sportanlage auf einem dem italienischen Staat gehörenden Grundstück. Am 27. Dezember 1985 schloss sie mit der Associazione Polisportiva Olimpiclub (im Folgenden: Associazione), einer Personenvereinigung ohne Gewinnzweck, deren Gründungsmitglieder überwiegend auch Anteile an Olimpiclub hielten, einen Vertrag, der der Associazione gestattete, sämtliche Einrichtungen dieser Sportanlage zu nutzen (im Folgenden: Nutzungsvertrag). Als Gegenleistung musste die Associazione erstens die Zahlung der Gebühr (aufgrund der Überlassung der Nutzung des Grundstücks zu zahlender Betrag) an den italienischen Staat übernehmen, zweitens jedes Jahr eine Kostenerstattungspauschale von 5 000 000 ITL zahlen und drittens die gesamten Bruttoeinnahmen der Associazione, bestehend im Gesamtbetrag der jährlichen Mitgliedsbeiträge, an Olimpiclub abführen.
Rz. 6
1992 nahm die Finanzverwaltung hinsichtlich dieses Nutzungsvertrags Überprüfungen vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Parteien dieses ...