Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Fehlende Ausstellung eines Fiskalkassenbelegs. Grundsatz ne bis in idem. Kumulierung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur für ein und dieselbe Tat. Verhältnismäßigkeit der Strafen. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Umfang der richterlichen Kontrolle in Bezug auf die vorläufige Vollstreckung einer Sanktion
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 273
Beteiligte
Nachalnik na otdel „Operativni deynosti” – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol” pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite |
Verfahrensgang
Administrativen sad Blagoevgrad (Bulgarien) (Beschluss vom 12.02.2021; ABl. EU 2021, Nr. C 163/15) |
Tenor
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der gegen einen Steuerpflichtigen wegen ein und derselben Zuwiderhandlung gegen eine steuerliche Verpflichtung nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren eine Maßnahme einer Vermögenssanktion und eine Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums verhängt werden können, wobei gegen diese Maßnahmen vor unterschiedlichen Gerichten Klagen erhoben werden können, entgegenstehen, sofern diese Regelung keine Koordinierung der Verfahren, die es ermöglichen würde, die mit der Kumulierung der verhängten Maßnahmen verbundene zusätzliche Belastung auf das absolut Notwendige zu reduzieren, gewährleistet und es nicht ermöglicht, sicherzustellen, dass die Schwere aller dieser Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung entspricht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad – Blagoevgrad (Verwaltungsgericht Blagoevgrad, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 2021, in dem Verfahren
MV – 98
gegen
Nachalnik na otdel „Operativni deynosti” – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol” pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Drambozova, C. Giolito und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie von Art. 47, Art. 49 Abs. 3 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MV – 98 und dem Nachalnik na otdel „Operativni deynosti” – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol” pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite (Leiter der Abteilung „Operative Tätigkeiten” – Stadt Sofia für die Generaldirektion „Steueraufsicht” der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) wegen der Versiegelung eines Geschäftsraums, in dem MV – 98 eine Zigarettenpackung verkauft hatte, ohne einen Fiskalkassenbeleg auszustellen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.
Rz. 4
Art. 273 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.”
Bulgarisches Recht
Mehrwertsteuergesetz
Rz. 5
Art. 118 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) vom 21. Juli 2006 (DV Nr. 63 vom 4. August 2006, S. 8) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Fo...