Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen. Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Zuständigkeit für Verfahren, die eine unerlaubte Handlung, eine ihr gleichgestellte Handlung oder Ansprüche aus einer solchen Handlung zum Gegenstand haben. Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs. In verschiedenen Mitgliedstaaten ansässige Tochtergesellschaften. Unmittelbarer Schaden, der ausschließlich bei den Tochtergesellschaften eingetreten ist. Schadensersatzklage der Muttergesellschaft. Begriff ‚wirtschaftliche Einheit‘
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 7 Nr. 2; AEUV Art. 101; EWR-Abk Art. 53
Beteiligte
MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt. |
Tenor
Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist dahin auszulegen, dass
die Wendung „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ nicht den Sitz der Muttergesellschaft umfasst, wenn diese eine Klage auf Ersatz von Schäden erhebt, die ausschließlich ihren Tochtergesellschaften durch das wettbewerbswidrige Verhalten eines Dritten, das eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt, entstanden sind; dies gilt auch dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaften derselben wirtschaftlichen Einheit angehörten.
Tatbestand
In der Rechtssache C-425/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 7. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2022, in dem Verfahren
MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt.
gegen
Mercedes-Benz Group AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und D. Gratsias,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt., vertreten durch G. Kutai, D. Petrányi und Sz. Szendrő, Ügyvédek,
- – der Mercedes-Benz Group AG, vertreten durch K. Hetényi, M. Kovács und A. Turi, Ügyvédek, und Rechtsanwälte M. Kocí und C. von Köckritz,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, A. Edelmannová und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka, G. Meessen und S. Noë als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Februar 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der MOL Magyar Olaj- és Gázipari Nyrt. (im Folgenden: MOL) und der Mercedes-Benz Group AG wegen einer Klage von MOL auf Ersatz des Schadens, der ihr durch wettbewerbswidrige, gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßende Verhaltensweisen der Mercedes-Benz Group entstanden sein soll.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung (EG) Nr. 864/2007
Rz. 3
Der siebte Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) (ABl. 2007, L 199, S. 40) lautet:
„Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der [Verordnung Nr. 1215/2012] und den Instrumenten, die das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht zum Gegenstand haben, in Einklang stehen.“
Rz. 4
Art. 6 („Unlauterer Wettbewerb und den freien Wettbewerb einschränkendes Verhalten“) Abs. 3 Buchst. a dieser Verordnung bestimmt:
„Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird.“
Verordnung Nr. 1215/2012
Rz. 5
Die Erwägungsgründe 15 und 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten:
„(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz ...