Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Ersatz des durch ein nach Art. 101 AEUV verbotenes Verhalten verursachten Schadens. Bestimmung der ersatzpflichtigen Einheiten. Schadensersatzklage gegen die Tochtergesellschaft, die im Anschluss an einen Beschluss erhoben wird, in dem nur die Beteiligung der Muttergesellschaft an einem Kartell festgestellt wurde. Begriff ‚Unternehmen’. Begriff ‚wirtschaftliche Einheit’
Normenkette
AEUV Art. 101
Beteiligte
Mercedes Benz Trucks España SL |
Tenor
1. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass das Opfer einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise eines Unternehmens eine Schadensersatzklage sowohl gegen eine Muttergesellschaft, die von der Europäischen Kommission wegen dieser Verhaltensweise in einem Beschluss mit einer Sanktion belegt wurde, als auch gegen eine Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft, die von diesem Beschluss nicht betroffen ist, erheben kann, sofern sie zusammen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Die betreffende Tochtergesellschaft muss ihre Verteidigungsrechte sachdienlich ausüben können, um nachzuweisen, dass sie nicht zu diesem Unternehmen gehört, und ist, wenn die Kommission keinen Beschluss nach Art. 101 AEUV erlassen hat, auch berechtigt, das Vorliegen der behaupteten Zuwiderhandlung selbst zu bestreiten.
2. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit vorsieht, die Haftung für das Verhalten einer Gesellschaft einer anderen Gesellschaft nur dann zuzurechnen, wenn die zweite Gesellschaft die erste Gesellschaft kontrolliert.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 24. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2019, in dem Verfahren
Sumal SL
gegen
Mercedes Benz Trucks España SL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl sowie des Richters D. Šváby (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi und der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Mercedes Benz Trucks España SL, zunächst vertreten durch die Rechtsanwälte C. von Köckritz und H. Weiß sowie durch P. Hitchings und M. Pérez Carrillo, abogados, dann durch die Rechtsanwälte C. von Köckritz und H. Weiß, durch A. Ward, abogado, sowie durch M. López Ridruejo, abogada,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta und L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Baches Opi, F. Jimeno Fernández und C. Urraca Caviedes als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Sumal SL und der Mercedes Benz Trucks España SL wegen der Haftung der Letztgenannten für die Beteiligung ihrer Muttergesellschaft, der Daimler AG, an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 1/2003
Rz. 3
Art. 16 („Einheitliche Anwendung des … Wettbewerbsrechts [der Union]”) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) bestimmt:
„(1) Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen. Sie müssen es auch vermeiden, Entscheidungen zu erlassen, die einer Entscheidung zuwiderlaufen, die die Kommission in einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck kann das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das vor ihm anhängige Verfahren auszusetzen. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet der Rechte und Pflichten nach Artikel 234 des Vertrags.
(2) Wenn Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Artikel [101] oder [102 AEUV] über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen treffen, die der von der Kommission erlassenen Entscheidung zuwiderlaufen würden.”
Rz. 4
Art. 23 („Geldbußen”) Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung sieht ...