Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Insolvenzverfahren. Begriff der Niederlassung. Unternehmensgruppe. Niederlassung. Recht auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens. Kriterien. Person, die berechtigt ist, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen
Beteiligte
Tenor
1. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass eine Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Gesellschaftssitzes Gegenstand eines Liquidationsverfahrens ist, auch Gegenstand eines Sekundärinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat sein kann, in dem sie ihren Gesellschaftssitz und eigene Rechtspersönlichkeit hat.
2. Art. 29 Buchst. b der Verordnung Nr. 1346/2000 ist dahin auszulegen, dass die Frage, welche Person oder Stelle berechtigt ist, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen, nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats zu beurteilen ist, in dem die Eröffnung dieses Verfahrens beantragt wird. Das Recht, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen, darf allerdings nicht auf die Gläubiger mit Wohnsitz oder Hauptsitz in dem Mitgliedstaat, in dem sich die betreffende Niederlassung befindet, oder auf die Gläubiger, deren Forderung auf einer sich aus dem Betrieb dieser Niederlassung ergebenden Verbindlichkeit beruht, beschränkt werden.
3. Die Verordnung Nr. 1346/2000 ist dahin auszulegen, dass, sofern es sich bei dem Hauptinsolvenzverfahren um ein Liquidationsverfahren handelt, die Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitskriterien durch das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats zu beurteilen ist, in dem die Eröffnung dieses Verfahrens beantragt wird. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens jedoch das Unionsrecht, insbesondere dessen allgemeine Grundsätze und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1346/2000, beachten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juni 2013, in dem Verfahren
Burgo Group SpA
gegen
Illochroma SA in Liquidation,
Jéróme Theetten in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Gesellschaft Illochroma SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet und E. Levits, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters S. Rodin,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Burgo Group SpA, vertreten durch R. Huberty und S. Voisin, avocats,
- der Illochroma SA in Liquidation und von J. Theetten in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der Illochroma SA, vertreten durch J. E. Kuntz, avocat,
- der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte, im Beistand von F. Gosselin, avocat,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Germani als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Czech und M. Arciszewski als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 16 sowie 27 bis 29 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Burgo Group SpA (im Folgenden: Burgo Group) einerseits und der Illochroma SA (im Folgenden: Illochroma) in Liquidation und J. Theetten in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter von Illochroma andererseits wegen Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens (im Folgenden: Sekundärverfahren) in Belgien über das Vermögen von Illochroma.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 11, 12 und 17 bis 19 der Verordnung heißt es:
„(11) Diese Verordnung geht von der Tatsache aus, dass aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung für die gesamte Gemeinschaft nicht realisierbar ist. Die ausnahmslose Anwendung des Rechts des Staates der Verfahrenseröffnung würde vor diesem Hintergrund häufig zu Schwierigkeiten führen. … Diese Verordnung sollte dem … Re...