Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Antrag eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen auf eine Aufenthaltskarte. Ablehnung. Pflicht des Unionsbürgers, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen. Pflicht der Ehegatten zum Zusammenleben. Minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist. Nationale Rechtsvorschriften und nationale Praxis. Tatsächlicher Genuss des Kernbestands der EU-Staatsangehörigen verliehenen Rechte. Vorenthaltung
Normenkette
AEUV Art. 20
Beteiligte
Subdelegación del Gobierno en Toledo |
Subdelegación del Gobierno en Toledo |
Tenor
1. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, einen Antrag auf Familienzusammenführung, der für einen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, gestellt wird, allein deshalb abzulehnen, weil die Existenzmittel des Unionsbürgers für ihn und diesen Familienangehörigen nicht ohne Inanspruchnahme nationaler Sozialhilfeleistungen ausreichen, ohne dass geprüft worden wäre, ob zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, zwänge, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen, wodurch ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status als Unionsbürger verleiht, vorenthalten würde.
2. Art. 20 AEUV ist zum einen dahin auszulegen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das die Zuerkennung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach diesem Artikel rechtfertigen kann, nicht allein deshalb besteht, weil der volljährige Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und sein volljähriger drittstaatsangehöriger Ehegatte nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt und in dem die Ehe geschlossen wurde, aufgrund der sich aus der Ehe ergebenden Pflichten zum Zusammenleben verpflichtet sind, und zum anderen dahin, dass im Fall eines minderjährigen Unionsbürgers die Beurteilung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen Elternteil dieses Kindes ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zuzuerkennen, im Interesse des Kindeswohls unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Lebt dieser Elternteil mit dem anderen, die Unionsbürgerschaft besitzenden Elternteil dieses Minderjährigen dauerhaft zusammen, wird ein solches Abhängigkeitsverhältnis widerlegbar vermutet.
3. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis, das es rechtfertigen kann, dem drittstaatsangehörigen minderjährigen Kind des ebenfalls drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zuzuerkennen, besteht, wenn aus der Verbindung zwischen dem Unionsbürger und seinem Ehegatten ein Kind mit Unionsbürgerschaft hervorgegangen ist, das nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, und wenn dieses Kind gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, falls das drittstaatsangehörige minderjährige Kind seinerseits gezwungen wäre, das Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Obergericht Kastilien-La Mancha, Spanien) mit Entscheidungen vom 29. April 2019 und vom 17. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juni 2019 bzw. am 11. Juli 2019, in den Verfahren
Subdelegación del Gobierno en Toledo
gegen
XU (C-451/19),
QP (C-532/19)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richter S. Rodin und J.-C. Bonichot sowie der Richterinnen L. S. Rossi und O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez und S. Jiménez García als Bevollmächtigte, dann durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV.
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Subdelegación del Gobierno en Toledo (Unterdelegation der Regierung in Toledo, Spanien) (im Folgenden: Unterdelegation) und XU bzw. QP. Gegenstand der Verfahren ist eine seitens d...