Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittel. Staatliche Beihilfen. Steuerschuldenerlass. Befreiung von der Körperschaftsteuer. Erhöhung des Gesellschaftskapitals. Verhalten des Staates wie ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder privater Kapitalgeber. Kriterien für die Unterscheidung, ob der Staat als Anteilseigner in Ausübung hoheitlicher Befugnisse handelt. Bestimmung des privaten Referenzkapitalgebers. Grundsatz der Gleichbehandlung. Beweislast
Beteiligte
Électricité de France (EDF) |
Tenor
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten.
3. Die EFTA-Überwachungsbehörde, die Französische Republik und die Iberdrola SA tragen ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 26. Februar 2010,
Europäische Kommission, vertreten durch E. Gippini Fournier, B. Stromsky und D. Grespan als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis und B. Alterskjær als Bevollmächtigte,
Streithelferin im Rechtsmittelverfahren,
andere Verfahrensbeteiligte:
Électricité de France (EDF) mit Sitz in Paris (Frankreich), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Debroux,
Klägerin im ersten Rechtszug,
Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und J. Gstalter als Bevollmächtigte,
Iberdrola SA mit Sitz in Bilbao (Spanien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte J. Ruiz Calzado und É. Barbier de La Serre,
Streithelferinnen im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und M. Safjan sowie der Richter K. Schiemann, E. Juhász, G. Arestis, A. Borg Barthet, A. Arabadjiev (Berichterstatter), D. Šváby und der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzlerin: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2011,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Europäische Kommission Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 15. Dezember 2009, EDF/Kommission (T-156/04, Slg. 2009, II-4503, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem die Art. 3 und 4 der Entscheidung 2005/145/EG der Kommission vom 16. Dezember 2003 über staatliche Beihilfen, die Frankreich EDF und der Strom- und Gaswirtschaft gewährt hat (ABl. 2005, L 49, S. 9, im Folgenden: streitige Entscheidung), für nichtig erklärt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 2
Art. 38 Abs. 2 des französischen Code général des impôts (Steuergesetzbuch) bestimmt:
„Der Nettogewinn besteht aus dem Unterschied zwischen den Werten der Nettoaktiva bei Abschluss und zu Beginn des Zeitraums, dessen Einkünfte als Besteuerungsgrundlage abzüglich der Kapitalzuschüsse und zuzüglich der Entnahmen dienen, die in diesem Zeitraum vom Betreiber oder von den Gesellschaftern getätigt werden. Unter Nettoaktiva ist der Überschuss der Aktiva über den Gesamtbetrag der Passiva, gebildet aus den Forderungen Dritter, den Abschreibungen und den nachgewiesenen Rückstellungen, zu verstehen.”
Rz. 3
Art. 4 Abs. I und II des Gesetzes Nr. 97-1026 vom 10. November 1997 über steuerliche und finanzielle Dringlichkeitsmaßnahmen (JORF vom 11. November 1997, S. 16387) bestimmt:
„I. Die Anlagen des allgemeinen Elektrizitätsversorgungsnetzes gelten seit der Konzession dieses Netzes an Électricité de France (im Folgenden: EDF) als deren Eigentum.
II. In Anwendung der Bestimmungen von [Abs.] I wird am 1. Januar 1997 der Gegenwert der konzessionierten Sachwerte des allgemeinen Elektrizitätsversorgungsnetzes, der auf der Passivseite der Bilanz [von EDF] steht, nach Abzug entsprechender Wertberichtigungen in den Posten ‚Kapitalerhöhungen’ aufgenommen.”
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Allgemeiner Kontext der Rechtssache
Rz. 4
EDF erzeugt, befördert und verteilt Strom, insbesondere im gesamten französischen Hoheitsgebiet. Sie wurde durch die Loi n° 46-628, du 8 avril 1946, sur la nationalisation de l'électricité et du gaz (Gesetz Nr. 46-628 vom 8. April 1946 über die Verstaatlichung des Elektrizitäts- und Gassektors, JORF vom 9. April 1946, S. 2651) errichtet und befand sich im Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens nach Art. 88 Abs. 2 EG im Jahr 2002 vollständig im Eigentum des Staates.
Rz. 5
In Art. 36 des Gesetzes Nr. 46-628 ist der Grundsatz der Übertragung der verstaatlichten Elektrizitätskonzessionen auf EDF niedergelegt. Die verschiedenen vom Staat für die Beförderung von Elektrizität erteilten Konzessionen wurden 1958 in einer einheitlichen Konzession, genannt „Allgemeines Versorgungsnetz” (im Folgenden: AVN), zusammengefasst.
Rz. 6
Aufgrund der Anwendung des Plan comptable général (Kontenrahmen) von 1982, der spezielle Bilanzierungsregeln für Konzession...