Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C-105/14, EU:C:2015:555). Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten. Nationale Regelung mit Verjährungsfristen, die die Straflosigkeit der Straftaten zur Folge haben können. Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Europäischen Union. Pflicht, jede Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, unangewendet zu lassen. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen
Normenkette
AEUV Art. 325
Beteiligte
Tenor
Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die zum nationalen materiellen Recht gehören und der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, unangewendet zu lassen, es sei denn, ihre Nichtanwendung führt wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 23. November 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2017, in dem Strafverfahren gegen
M.A.S. und
M.B.,
Beteiligter:
Presidente del Consiglio dei Ministri,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça (Berichterstatter), C. G. Fernlund und C. Vajda, der Richter A. Borg Barthet, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, M. Safjan und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter M. Vilaras und E. Regan,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Mai 2017
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von M.A.S., vertreten durch G. Insolera, A. Soliani und V. Zeno-Zencovich, avvocati,
- von M.B., vertreten durch N. Mazzacuva und V. Manes, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, G. Galluzzo und S. Fiorentino, avvocati dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Rossi, J. Baquero Cruz, H. Krämer und K. Banks als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Juli 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV in der Auslegung durch das Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C-105/14, EU:C:2015:555) (im Folgenden: Urteil Taricco).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M.A.S. und M.B. wegen Mehrwertsteuerstraftaten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV lautet:
„(1) Die Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.
(2) Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.”
Italienisches Recht
Rz. 4
Art. 25 der Verfassung lautet:
„Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Außer in den durch Gesetz vorgesehenen Fällen darf niemandem die Freiheit entzogen werden.”
Rz. 5
Art. 157 des Codice penale (Strafgesetzbuch) in der durch die Legge n. 251 (Gesetz Nr. 251) vom 5. Dezember 2005 (GURI Nr. 285 vom 7. Dezember 2005) geänderten Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) bestimmt:
„Eine Straftat verjährt innerhalb einer Frist, die dem Höchstmaß der in der Strafvorschrift für diese Tat vorgesehenen Strafe entspricht; unabhängig davon beträgt die Verjährungsfrist bei Verbrechen mindestens sechs Jahre und bei Vergehen mindestens vier Jahre, selbs...