Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit in Unterhaltssachen. Rechtshängigkeit. Zusammenhang der Verfahren. Begriff
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 4/2009 Art. 12 Abs. 1, Art. 13
Beteiligte
Tenor
Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen
ist dahin auszulegen, dass
die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen der Anerkennung einer Situation der Rechtshängigkeit, nach denen die Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden müssen, nicht erfüllt sind, wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind, das zwischenzeitlich volljährig geworden ist, bei einem Gericht eines Mitgliedstaats zulasten seiner Mutter die Zahlung von Unterhalt beantragt, die Mutter bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats bereits einen Antrag gestellt hat, mit dem sie vom Vater des Kindes einen Ausgleich wegen der Unterbringung und des Unterhalts des Kindes verlangt, da die Ansprüche der Antragsteller nicht dasselbe Ziel verfolgen und sich in zeitlicher Hinsicht nicht decken. Das Nichtvorliegen einer Situation der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 steht der Anwendung von Art. 13 der Verordnung jedoch nicht entgegen, wenn zwischen den fraglichen Verfahren eine so enge Beziehung besteht, dass sie im Sinne von Art. 13 Abs. 3 der Verordnung im Zusammenhang stehen, so dass das vorlegende Gericht als später angerufenes Gericht das Verfahren aussetzen könnte.
Tatbestand
In der Rechtssache C-381/23 [Geterfer](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2023, in dem Verfahren
ZO
gegen
JS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Richters J.-C. Bonichot und der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Vondung und W. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen ZO, einem während des Verfahrens volljährig gewordenen Kind, und seiner Mutter JS wegen der Zahlung von Unterhalt.
Verordnung Nr. 4/2009
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 15 und 44 der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es:
„(15) Um die Interessen der Unterhaltsberechtigten zu wahren und eine ordnungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu fördern, sollten die Vorschriften über die Zuständigkeit, die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] ergeben, angepasst werden …
…
(44) Diese Verordnung sollte die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ändern, indem sie deren auf Unterhaltssachen anwendbare Bestimmungen ersetzt. Vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen dieser Verordnung sollten die Mitgliedstaaten bei Unterhaltssachen, ab dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit dieser Verordnung die Bestimmungen dieser Verordnung über die Zuständigkeit, die Anerkennung, die Vollstreckbarkeit und die Vollstreckung von Entscheidungen und über die Prozesskostenhilfe anstelle der entsprechenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 anwenden.“
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 sieht vor:
„Diese Verordnung findet Anwendung auf Unterhaltspflichten, die auf einem Familien-, Verwandtschafts- … oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen.“
Rz. 5
Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 4/2009 umfasst die Art. 3 bis 14.
Rz. 6
Art. 3 der Verordnung Nr. 4/2009 bestimmt:
„Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist
a) das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
b) das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
c) das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf den Personenstand zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit begründet sich einzig...