Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Vorlage zur Vorabentscheidung. Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen. Klägergerichtsstand. Voraussetzung. Gewöhnlicher Aufenthalt des Antragstellers im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts während der gesamten Frist unmittelbar vor Antragstellung
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
BM (Résidence du demandeur de divorce) |
Tenor
Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000
ist dahin auszulegen, dass
er die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe davon abhängig macht, dass der Antragsteller, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, den Nachweis erbringt, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erlangt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-462/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 25. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juli 2022, in dem Verfahren
BM
gegen
LO
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von LO, vertreten durch Rechtsanwältin B. Ackermann,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, S. Duarte Afonso und J. Ramos als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold und W. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BM und seiner Ehefrau LO wegen eines bei den deutschen Gerichten gestellten Antrags auf Auflösung ihrer Ehe.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.“
Rz. 4
Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:
a) die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,
…“
Rz. 5
In Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung heißt es:
„(1) Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,
a) in dessen Hoheitsgebiet
- – beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder
- – die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
- – der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
- – im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
- – der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder
- – der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, dort sein ‚domicile‘ hat;
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 6
BM, ein deutscher Staatsangehöriger, und LO, eine polnische Staatsangehörige, schlossen im Jahr 2000 in Polen die Ehe. Sie lebten dort mit ihren K...