Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Gültigkeit. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Antrag auf Ehescheidung. Unterschiedliche Aufenthaltsdauererfordernisse im Hinblick auf die Bestimmung des zuständigen Gerichts. Unterscheidung zwischen einem Gebietsansässigen, der Angehöriger des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts ist, und einem Gebietsansässigen, der nicht Angehöriger dieses Mitgliedstaat ist. Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Fehlen

 

Normenkette

AEUV Art. 18; Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich; Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich

 

Beteiligte

OE

OE

VY

 

Tenor

Das in Art. 18 AEUV verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist dahin auszulegen, dass es dem nicht entgegensteht, dass die Zuständigkeit des Gerichts des Aufenthaltsmitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 eine Mindestdauer des Aufenthalts des Antragstellers unmittelbar vor der Antragstellung voraussetzt, die sechs Monate kürzer ist als die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich dieser Verordnung vorgesehene, und zwar deshalb, weil der Antragsteller Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 29. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2020, in dem Verfahren

OE

gegen

VY

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Balta und T. Haas als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1) und die möglichen Folgen einer etwaigen Ungültigkeit dieser Bestimmung.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OE und seiner Ehefrau VY wegen eines bei den österreichischen Gerichten gestellten Antrags auf Auflösung ihrer Ehe.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

Im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. 2000, L 160, S. 19), die durch die Verordnung Nr. 2201/2003 mit Wirkung vom 1. März 2005 aufgehoben wurde, hieß es:

„Die Zuständigkeitskriterien gehen von dem Grundsatz aus, dass zwischen dem Verfahrensbeteiligten und dem Mitgliedstaat, der die Zuständigkeit wahrnimmt, eine tatsächliche Beziehung bestehen muss. Die Auswahl dieser Kriterien ist darauf zurückzuführen, dass sie in verschiedenen einzelstaatlichen Rechtsordnungen bestehen und von den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden.”

Rz. 4

Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Europäische Gemeinschaft hat sich die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. Hierzu erlässt die Gemeinschaft unter anderem die Maßnahmen, die im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind.”

Rz. 5

Art. 1 („Anwendungsbereich”) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

a) die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

…”

Rz. 6

Art. 3 („Allgemeine Zuständigkeit”) der Verordnung bestimmt:

„(1) Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,

  1. in dessen H...

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