Entscheidungsstichwort (Thema)
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Verordnung (EG) Nr. 44/2001. Durchführung. Anfechtungsgründe. Keine Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks. Kontrolle durch das Gericht des Vollstreckungsstaats. Umfang. Aussagekraft der Angaben in der Bescheinigung. Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Gerichtliche Entscheidung ohne Begründung
Beteiligte
Tenor
1. Art. 34 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, auf den Art. 45 Abs. 1 dieser Verordnung verweist, ist in Verbindung mit den Erwägungsgründen 16 und 17 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass dann, wenn der Beklagte die Vollstreckbarerklärung einer im Ursprungsmitgliedstaat erlassenen, mit der Bescheinigung nach Art. 54 derselben Verordnung versehenen Versäumnisentscheidung mit dem Vorbringen anficht, ihm sei das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht zugestellt worden, das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats berechtigt ist, die Übereinstimmung der Angaben in der genannten Bescheinigung mit den Beweisen zu überprüfen.
2. Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, auf den Art. 45 Abs. 1 dieser Verordnung verweist, ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats einer gerichtlichen Entscheidung – mit der in einem Verfahren, auf das sich der Beklagte nicht eingelassen hat, ohne Prüfung des Gegenstands der Klage oder ihrer Grundlagen in der Sache über einen Rechtsstreit entschieden wurde und die keine Ausführungen zur Begründetheit der Klage enthält – die Vollstreckung nicht auf der Grundlage der Ordre-public-Klausel versagen kann, es sei denn, dass es nach einer Gesamtwürdigung des Verfahrens und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände der Auffassung ist, dass diese Entscheidung eine offensichtliche und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Rechts des Beklagten auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstellt, weil es dem Beklagten nicht möglich ist, gegen diese Entscheidung in zweckdienlicher und wirksamer Weise ein Rechtsmittel einzulegen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Senāts (Lettland) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Dezember 2010, in dem Verfahren
Trade Agency Ltd
gegen
Seramico Investments Ltd
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter M. Safjan, M. Ilešič und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Trade Agency Ltd, vertreten durch V. Tihonovs, zvērināts advokēts,
- der Seramico Investments Ltd, vertreten durch J. Salims, zvērināts advokēts,
- der lettischen Regierung, vertreten durch M. Borkoveca, A. Nikolajeva und I. Kalniņč als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von A. Collins, SC,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, B. Beaupère-Manokha und N. Rouam als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und R. Krasuckaitė als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und B. Czech als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von A. Henshaw, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A.-M. Rouchaud-Joët und A. Sauka als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. April 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 34 Nrn. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Trade Agency Ltd (im Folgenden: Trade Agency) und der Seramico Investments Ltd (im Folgenden: Seramico) über die Anerkennung und Vollstreckung einer Versäumnisentscheidung des High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Vereinigtes Königreich), ...