Entscheidungsstichwort (Thema)
Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht. Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht. Chartervertrag. Anknüpfungskriterien. Teilbarkeit
Beteiligte
Intercontainer Interfrigo SC (ICF) |
Tenor
1. Art. 4 Abs. 4 letzter Satz des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom, ist dahin auszulegen, dass das in Art. 4 Abs. 4 Satz 2 vorgesehene Anknüpfungskriterium für einen anderen Chartervertrag als einen solchen für eine einzige Reise nur dann gilt, wenn Hauptgegenstand des Vertrags nicht die bloße Zurverfügungstellung eines Beförderungsmittels ist, sondern die Beförderung der Güter im eigentlichen Sinn.
2. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 dieses Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass ein Teil des Vertrags nur dann einem anderen Recht als demjenigen, das auf den Rest des Vertrags angewendet wird, unterliegen kann, wenn sich sein Gegenstand als autonom darstellt.
Wird auf einen Chartervertrag das in Art. 4 Abs. 4 des Übereinkommens vorgesehene Anknüpfungskriterium angewendet, muss dieses Kriterium für den gesamten Vertrag gelten, es sei denn, dass sich der Teil des Vertrags, der sich auf die Beförderung bezieht, gegenüber dem Rest des Vertrags als autonom darstellt.
3. Art. 4 Abs. 5 des Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass es, wenn sich klar aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag engere Verbindungen mit einem anderen Staat als demjenigen aufweist, der auf der Grundlage eines der in Art. 4 Abs. 2 bis 4 vorgesehenen Kriterien bestimmt wird, Sache des Richters ist, diese Kriterien unangewendet zu lassen und das Recht des Staates anzuwenden, mit dem der genannte Vertrag am engsten verbunden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach dem Ersten Protokoll vom 19. Dezember 1988 betreffend die Auslegung des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 28. März 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 2. April 2008, in dem Verfahren
Intercontainer Interfrigo SC (ICF)
gegen
Balkenende Oosthuizen BV,
MIC Operations BV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, A. Ó Caoimh und J.-C. Bonichot, der Richter P. Kūris, E. Juhász, G. Arestis und L. Bay Larsen sowie der Richterinnen P. Lindh und C. Toader (Berichterstatterin),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und Y. de Vries als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Joris und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Mai 2009
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. 1980, L 266, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen). Es betrifft dessen Art. 4 über das mangels Rechtswahl anzuwendende Recht.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Intercontainer Interfrigo SC (im Folgenden: ICF), eine Gesellschaft mit Sitz in Belgien, gegen die Balkenende Oosthuizen BV (im Folgenden: Balkenende) und die MIC Operations BV (im Folgenden: MIC), zwei Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden, betreibt, um die Verurteilung der letztgenannten Gesellschaften zur Begleichung offener Rechnungen zu erreichen, die auf der Grundlage eines zwischen den Parteien geschlossenen Chartervertrags ausgestellt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 4 des Übereinkommens trägt die Überschrift „Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht” und bestimmt:
„(1) Soweit das auf den Vertrag anzuwendende Recht nicht nach Artikel 3 vereinbart worden ist, unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. Lässt sich jedoch ein Teil des Vertrages von dem Rest des Vertrages trennen und weist dieser Teil eine engere Verbindung mit einem anderen Staat auf, so kann auf ihn ausnahmsweise das Recht dieses anderen Staates angewendet werden.
(2) Vorbehaltlich des Absatzes 5 wird vermutet, dass der Vertrag die engsten Verbindungen mit dem Staat aufweist, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung zu erbringen hat, im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder, wenn es sich um eine Gesellschaft, einen Verein oder eine juristische Person handelt, ihre Hauptverwaltung hat. Ist der Vertrag jedoch in Ausübung einer beruflichen oder gewerblich...