Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Europäisches Parlament. Wahlen. Aktives Wahlrecht. Unionsbürgerschaft. Rückwirkung des milderen Strafgesetzes. Nationale Rechtsvorschriften, die bei einer vor dem 1. März 1994 ergangenen letztinstanzlichen Verurteilung wegen einer Straftat den Verlust des aktiven Wahlrechts vorsehen

 

Normenkette

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 39, 49

 

Beteiligte

Delvigne

Thierry Delvigne

Commune de Lesparre-Médoc

Préfet de la Gironde

 

Tenor

Die Art. 39 Abs. 2 und 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von Rechts wegen Personen wie Herrn Delvigne ausschließen, deren Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens vor dem 1. März 1994 rechtskräftig geworden war.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal d'instance de Bordeaux (Frankreich) mit Entscheidung vom 7. November 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2013, in dem Verfahren

Thierry Delvigne

gegen

Commune de Lesparre-Médoc,

Préfet de la Gironde

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, C. Vajda und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský und F. Biltgen,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Delvigne, vertreten durch J. Fouchet, avocat,
  • der Commune de Lesparre-Médoc, vertreten durch M.-C. Baltazar und A. Pagnoux, avocats,
  • der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigten,
  • der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch M. Holt als Bevollmächtigten im Beistand von J. Coppel, QC,
  • des Europäischen Parlaments, vertreten durch D. Moore und P. Schonard als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel und H. Krämer als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juni 2015

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 39 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Delvigne gegen die Commune de Lesparre-Médoc (Gemeinde Lesparre-Médoc, Frankreich) und den Préfet de la Gironde (Präfekt der Gironde) wegen seiner Streichung im Wählerverzeichnis der genannten Gemeinde führt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 1 des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Anhang des Beschlusses 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 (ABl. L 278, S. 1) in der durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. L 283, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Akt von 1976) bestimmt:

„(1) In jedem Mitgliedstaat werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt.

(3) Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.”

Rz. 4

Art. 7 des Akts von 1976 lautet:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.

Diese innerstaatlichen Vorschriften, die gegebenenfalls den Besonderheiten in den Mitgliedstaaten Rechnung tragen können, dürfen das Verhältniswahlsystem insgesamt nicht in Frage stellen.”

Französisches Recht

Rz. 5

Art. 28 Abs. 1 des durch das Gesetz vom 12. Februar 1810 eingeführten Code pénal (Strafgesetzbuch) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: alter Code pénal) sah vor:

„Eine Verurteilung wegen eines Verbrechens führt zum Verlust der bürgerlichen Rechte.”

Rz. 6

Art. 34 des alten Code pénal bestimmte:

„Der Verlust der bürgerlichen Rechte besteht im

Rz. 2°

Entzug des Stimmrechts, des Wahlrechts, der Wählbarkeit und allgemein sämtlicher bürgerlicher und politischer Rechte …

…”

Rz. 7

Der alte Code pénal wurde mit Wirkung vom 1. März 1994 durch das Gesetz Nr. 92-1336 vom 16. Dezember 1992 „relative à l'entrée en vigueur du nouveau code pénal et à la modification de certaines dispositions de droit pénal et de procédure pénale rendue nécessaire par cette entrée en vigueur” (bet...

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