Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. Rechtsschutz von Computerprogrammen. Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen. Handlungen, die zur Fehlerberichtigung durch den rechtmäßigen Erwerber notwendig sind. Begriff. Dekompilierung. Voraussetzungen
Normenkette
EWGRL 250/91 Art. 5-6
Beteiligte
Tenor
1. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen ist dahin auszulegen, dass der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms berechtigt ist, dieses ganz oder teilweise zu dekompilieren, um Fehler, die das Funktionieren dieses Programms beeinträchtigen, zu berichtigen, einschließlich in dem Fall, dass die Berichtigung darin besteht, eine Funktion zu desaktivieren, die das ordnungsgemäße Funktionieren der Anwendung, zu der dieses Programm gehört, beeinträchtigt.
2. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250 ist dahin auszulegen, dass der rechtmäßige Erwerber eines Computerprogramms, der die Dekompilierung dieses Programms vornehmen möchte, um Fehler, die dessen Funktionieren beeinträchtigen, zu berichtigen, nicht den Anforderungen nach Art. 6 dieser Richtlinie genügen muss. Der Erwerber darf eine solche Dekompilierung jedoch nur in dem für die Berichtigung erforderlichen Ausmaß und gegebenenfalls unter Einhaltung der mit dem Inhaber des Urheberrechts an diesem Programm vertraglich festgelegten Bedingungen vornehmen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 2020, in dem Verfahren
Top System SA
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Top System SA, vertreten durch É. Wery und M. Cock, avocats,
- des belgischen Staates, vertreten durch M. Le Borne, avocat,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier und J. Samnadda als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 1991, L 122, S. 42).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Top System SA und dem belgischen Staat über die vom Selor (Auswahlbüro der Föderalverwaltung, Belgien) vorgenommene Dekompilierung eines Computerprogramms, das von Top System entwickelt wurde und Teil einer Anwendung ist, für die das Auswahlbüro eine Nutzungslizenz hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 17 bis 23 der Richtlinie 91/250 heißt es:
„Zu dem Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers, die nicht erlaubte Vervielfältigung seines Werks zu untersagen, sind im Fall eines Computerprogramms begrenzte Ausnahmen für die Vervielfältigung vorzusehen, die für die bestimmungsgemäße Verwendung des Programms durch den rechtmäßigen Erwerber technisch erforderlich sind. Dies bedeutet, dass das Laden und Ablaufen, sofern es für die Benutzung einer Kopie eines rechtmäßig erworbenen Computerprogramms erforderlich ist, sowie die Fehlerberichtigung nicht vertraglich untersagt werden dürfen. Wenn spezifische vertragliche Vorschriften nicht vereinbart worden sind, und zwar auch im Fall des Verkaufs einer Programmkopie, ist jede andere Handlung eines rechtmäßigen Erwerbers einer Programmkopie zulässig, wenn sie für eine bestimmungsgemäße Benutzung der Kopie notwendig ist.
Einer zur Verwendung eines Computerprogramms berechtigten Person sollte nicht untersagt sein, die zum Betrachten, Prüfen oder Testen des Funktionierens des Programms notwendigen Handlungen vorzunehmen, sofern diese Handlungen nicht gegen das Urheberrecht an dem Programm verstoßen.
Die nicht erlaubte Vervielfältigung, Übersetzung, Bearbeitung oder Änderung der Codeform einer Kopie eines Computerprogramms stellt eine Verletzung der Ausschließlichkeitsrechte des Urhebers dar.
Es können jedoch Situationen eintreten, in denen eine solche Vervielfältigung des Codes und der Übersetzung der Codeform im Sinne des Artikels 4 Buchstaben a) und b) unerlässlich ist, um die Informationen zu erhalten, die für die Interoperabilität eines unabhängig geschaffenen Programms mit anderen Programmen notwendig sind.
Folglich ist davon auszugehen, dass nur in diesen begrenzten Fällen eine Vervielfältigung und Übersetzung seitens oder im Namen einer zur Verwendung einer Kopie des Programms berechtigten Person rechtmäßig ist, anständigen Gepflogenheiten entspricht und deshalb nicht der Zustimmung des Rechtsin...