Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten), die auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Sanktionsentscheidungen führen. Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten), bei denen der Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung von Sanktionsentscheidungen vom Vorliegen der beiderseitigen Strafbarkeit abhängig machen kann. Überprüfung der rechtlichen Einordnung der Zuwiderhandlung durch den Entscheidungsmitgliedstaat in der der Sanktionsentscheidung beigefügten Bescheinigung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat
Normenkette
Rahmenbeschluss 2005/214/JI Art. 5 Abs. 1, 3
Beteiligte
Tenor
Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Behörde des Vollstreckungsstaats, sofern nicht einer der in diesem Rahmenbeschluss ausdrücklich vorgesehenen Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung vorliegt, die Anerkennung und Vollstreckung einer rechtskräftigen Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße grundsätzlich nicht verweigern kann, wenn die Behörde des Entscheidungsstaats in der Bescheinigung nach Art. 4 dieses Rahmenbeschlusses die in Rede stehende Zuwiderhandlung als unter eine der Kategorien von Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) fallend einordnet, für die Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/214 keine Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit vorgesehen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Zalaegerszegi Járásbíróság (Kreisgericht Zalaegerszeg, Ungarn) mit Entscheidung vom 12. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 12. März 2020, in dem Verfahren betreffend die Anerkennung und Vollstreckung einer Geldstrafe gegen
LU
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und L. Havas als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2005/214).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines von der Bezirkshauptmannschaft Weiz (Österreich) eingeleiteten Verfahrens über die Anerkennung und Vollstreckung eines Bescheids über eine Geldstrafe in Ungarn, die gegen die ungarische Staatsangehörige LU wegen einer von ihr in Österreich begangenen Verwaltungsübertretung verhängt worden war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2 und 4 des Rahmenbeschlusses 2005/214 heißt es:
„(1) Der Europäische Rat unterstützte auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Union werden sollte.
(2) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte für Geldstrafen oder Geldbußen von Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gelten, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen oder Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt worden sind, zu erleichtern.
…
(4) Dieser Rahmenbeschluss soll auch die wegen Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften verhängten Geldstrafen und Geldbußen erfassen.”
Rz. 4
In Art. 1 („Begriffsbestimmungen”) des Rahmenbeschlusses 2005/214 heißt es:
„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck
a) ‚Entscheidung’ eine rechtskräftige Entscheidung über die Zahlung ein...