Entscheidungsstichwort (Thema)
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Richtlinie 2008/115/EG. Gemeinsame Normen und Verfahren im Bereich der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Nationale Regelung, die für den Fall des illegalen Aufenthalts eine Freiheits- oder Geldstrafe vorsieht
Beteiligte
Tenor
Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass sie
- der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat,
- einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Paris (Frankreich) mit Entscheidung vom 29. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2011, in dem Verfahren
Alexandre Achughbabian
gegen
Préfet du Val-de-Marne
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot, J. Malenovský, U. Lõhmus und M. Safjan, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič (Berichterstatter) und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie des Richters J.-J. Kasel,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. September 2011, das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Achughbabian, vertreten durch C. Papazian und P. Spinosi, avocats,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. Belliard, G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam, als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Achughbabian und dem Präfekten des Departements Val-de-Marne wegen des illegalen Aufenthalts von Herrn Achughbabian im französischen Hoheitsgebiet.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2008/115
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 4, 5 und 17 der Richtlinie 2008/115 lauten:
„(4) Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.
(5) Mit dieser Richtlinie sollte eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen.
…
(17) … Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.”
Rz. 4
Art. 1 („Gegenstand”) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:
„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.”
Rz. 5
Art. 2 („Anwendungsbereich”) dieser Richtlinie best...