Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Gemeinsame Normen und Verfahren im Bereich der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Polizeigewahrsam. Nationale Regelung, die im Fall der illegalen Einreise eine Freiheitsstrafe vorsieht. ‚Durchreise’. Mehrseitige Rückübernahmevereinbarung
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG
Beteiligte
Procureur général de la cour d'appel de Douai |
Tenor
1. Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sind dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältig ist und daher in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, wenn er sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in diesen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, als Fahrgast eines im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats fahrenden Busses auf der Fahrt von einem anderen zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaat in Richtung eines weiteren Mitgliedstaats, der nicht zum Schengen-Raum gehört, auf der Durchreise befindet.
2. Die Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die allein aufgrund des Umstands der illegalen Einreise über eine Binnengrenze, die zu einem illegalen Aufenthalt führt, die Strafhaft eines Drittstaatsangehörigen zulässt, für den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen wurde.
Diese Auslegung gilt auch dann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige in Anwendung eines Abkommens oder einer Vereinbarung im Sinne von Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie von einem anderen Mitgliedstaat wieder aufgenommen werden kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 28. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 2015, in dem Verfahren
Sélina Affum
gegen
Préfet du Pas-de-Calais,
Procureur général de la cour d'appel de Douai
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas, E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits, der Richterinnen M. Berger und K. Jürimäe sowie der Richter M. Vilaras und E. Regan,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2015,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Affum, vertreten durch P. Spinosi, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Tátrai, G. Koós und M. Fehér als Bevollmächtigte,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch C. Bichet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Februar 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Sélina Affum auf der einen und dem Préfet du Pas-de-Calais (Präfekt von Pas-de-Calais, Frankreich) sowie dem Procureur général de la cour d'appel de Douai (Generalstaatsanwalt des Berufungsgerichts Douai, Frankreich) auf der anderen Seite wegen ihrer illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet und der Verlängerung ihrer Verwaltungshaft.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2008/115
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 2, 4, 5, 10, 17 und 26 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(2) Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.
…
(4) Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.
(5) Mit dieser Richtlinie sollte eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittsta...