Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Notare, die in Zwangsvollstreckungsverfahren auf der Grundlage einer glaubwürdigen Urkunde tätig werden. Nicht kontradiktorisches Verfahren. Diskriminierungsverbot. Recht auf ein faires Verfahren
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; AEUV Art. 18
Beteiligte
Tenor
Art. 18 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegenstehen, mit der Notare, die im Rahmen der ihnen in Zwangsvollstreckungsverfahren übertragenen Befugnisse auf der Grundlage einer glaubwürdigen Urkunde tätig werden, ermächtigt werden, Vollstreckungsbefehle zu erlassen, die gemäß dem Urteil vom 9. März 2017, Pula Parking (C-551/15, EU:C:2017:193), in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt und vollstreckt werden können.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Trgovački sud u Zagrebu (Handelsgericht Zagreb, Kroatien) mit Entscheidungen vom 20. März 2019 (C-267/19) und vom 8. April 2019 (C-323/19), beim Gerichtshof eingegangen am 28. März und am 18. April 2019, in den Verfahren
Parking d.o.o.
gegen
Sawal d.o.o. (C-267/19)
und
Interplastics s. r. o.
gegen
Letifico d.o.o. (C-323/19)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der PARKING d.o.o., vertreten durch M. Kuzmanović, odvjetnik,
- der Interplastics s. r. o., vertreten durch M. Praljak, odvjetnik,
- der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Mataija als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK), Art. 18 AEUV, der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) sowie der Urteile vom 9. März 2017, Zulfikarpašić (C-484/15, EU:C:2017:199) und Pula Parking (C-551/15, EU:C:2017:193).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen zum einen der Parking d.o.o. und der Sawal d.o.o sowie zum anderen der Interplastics s. r. o. und der Letifico d.o.o. über Anträge auf Beitreibung ausstehender Forderungen.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
Rz. 3
In Art. 6 EMRK („Recht auf ein faires Verfahren”) heißt es in Abs. 1:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …”
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 805/2004
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15) sieht vor:
„Diese Verordnung gilt für Entscheidungen, gerichtliche Vergleiche und öffentliche Urkunden über unbestrittene Forderungen.
Eine Forderung gilt als ‚unbestritten’, wenn
- der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren ausdrücklich durch Anerkenntnis oder durch einen von einem Gericht gebilligten oder vor einem Gericht im Laufe eines Verfahrens geschlossenen Vergleich zugestimmt hat oder
- der Schuldner ihr im gerichtlichen Verfahren zu keiner Zeit nach den maßgeblichen Verfahrensvorschriften des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats widersprochen hat oder
- der Schuldner zu einer Gerichtsverhandlung über die Forderung nicht erschienen oder dabei nicht vertreten worden ist, nachdem er zuvor im gerichtlichen Verfahren der Forderung widersprochen hatte, sofern ein solches Verhalten nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats als stillschweigendes Zugeständnis der Forderung oder des vom Gläubiger behaupteten Sachverhalts anzusehen ist oder
- der Schuldner die Forderung ausdrücklich in einer öffentlichen Urkunde anerkannt hat.”
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012
Rz. 5
In den Erwägungsgründen 4 und 10 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„(4) Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zustä...