Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Beschluss Nr. 2/76. Stillhalteklausel. Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers. Visumpflicht für die Einreise in das Gebiet eines Mitgliedstaats
Normenkette
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei
Beteiligte
Landeshauptstadt Stuttgart |
Tenor
Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 des durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrats ist dahin auszulegen, dass eine in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführte Maßnahme des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, davon abhängt, dass diese Staatsangehörigen vor der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates ein Visum zur Familienzusammenführung einholen, eine „neue Beschränkung” im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Maßnahme kann jedoch aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein; sie ist aber nur zulässig, soweit die Einzelheiten ihrer Umsetzung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 26. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2017, in dem Verfahren
Nefiye Yön
gegen
Landeshauptstadt Stuttgart,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter C. G. Fernlund, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Yön, vertreten durch Rechtsanwalt H. Baiker,
- der Landeshauptstadt Stuttgart, vertreten durch C. Schlegel-Herfelder als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz, T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Maxian Rusche und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. April 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von zwei Beschlüssen des Assoziationsrats, der durch das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen) eingesetzt wurde, und zwar von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 vom 20. Dezember 1976 und von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Nefiye Yön und der Landeshauptstadt Stuttgart (Deutschland) (im Folgenden: Stadt Stuttgart) wegen deren Weigerung, Frau Yön eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zur Familienzusammenführung zu erteilen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Assoziierungsabkommen
Rz. 3
Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat es zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der Wirtschaft der Republik Türkei sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.
Rz. 4
Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase vor, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3), eine Übergangsphase, in der die Vertragsparteien die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken gewährleisten (Art. 4), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftsp...