Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen. Erlass einer Ausweisungsverfügung gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten. Zu berücksichtigende Gesichtspunkte. Nationale Regelung. Fehlende Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte. Vereinbarkeit
Beteiligte
Delegación del Gobierno en Navarra |
Tenor
Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die – in der Auslegung durch einen Teil der Gerichte dieses Mitgliedstaats – die Geltung der Voraussetzungen, nach denen sich der Schutz eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vor Ausweisung richtet, nicht für jede behördliche Ausweisungsverfügung unabhängig von deren rechtlicher Natur oder Ausgestaltung vorsieht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n.° 1 de Pamplona (Verwaltungsgericht Nr. 1 Pamplona, Spanien) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2016, in dem Verfahren
Wilber López Pastuzano
gegen
Delegación del Gobierno en Navarra
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Malenovský sowie der Richter M. Safjan und M. Vilaras (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Wilber López Pastuzano, vertreten durch E. Santos Huamán und J. L. Rodríguez Candela, abogados,
- der spanischen Regierung, vertreten durch J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und S. Pardo Quintillán als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Wilber López Pastuzano und der Delegación del Gobierno en Navarra (Vertretung der Regierung in Navarra, Spanien) wegen deren Entscheidung vom 29. Juni 2015, mit der die Ausweisung von Herrn López Pastuzano aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet wurde (im Folgenden: Entscheidung vom 29. Juni 2015).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 lautet:
„Langfristig Aufenthaltsberechtigte sollten verstärkten Ausweisungsschutz genießen. Dieser Schutz orientiert sich an den Kriterien, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Um den Ausweisungsschutz sicherzustellen, sollten die Mitgliedstaaten wirksamen Rechtsschutz vorsehen.”
Rz. 4
Art. 12 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.
(2) Die Verfügung nach Absatz 1 darf nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen.
(3) Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:
- Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet,
- Alter der betreffenden Person,
- Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen,
- Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.
…”
Spanisches Recht
Rz. 5
Die Ley Orgánica 4/2000 sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (Organgesetz 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und deren gesellschaftliche Integration) vom 11. Januar 2000 (BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000) in ihrer für den Ausgangsrechtsstreit maßgebenden Fassung (im Folgenden: Organgesetz 4/2000) regelt in Titel III „ausländerrechtliche Zuwiderhandlungen und ihre Ahndung”.
Rz. 6
In diesem Titel III bestimmt Art. 57:
- „Wird die Zuwiderhandlung von einem Ausländer begangen und erfüllt sie den Tatbestand eines sehr schweren oder schweren Verstoßes im Sinne von Art. 53 Abs. 1 Buchst. a, b, c, d oder f dieser Ley Orgánica, so kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anstelle der Sanktion der Geldbuße nach Abschluss des entsprechenden Verwaltungsverfahrens und mit begründeter und die Tatumstände des Verstoßes bewertender Entscheidung die Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet werden.
- Ebenso kann ein Ausländer nach Durchführung des entsprechenden Verfahrens ausgewiesen werden, w...