Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. Automatisierte Entscheidung im Einzelfall. Wirtschaftsauskunfteien. Automatisierte Erstellung eines Wahrscheinlichkeitswerts in Bezug auf die Fähigkeit einer Person zur Erfüllung künftiger Zahlungsverpflichtungen (‚Scoring‘). Verwendung dieses Wahrscheinlichkeitswerts durch Dritte
Normenkette
EUVO 679/2016 Art. 22
Beteiligte
Tenor
Art. 22 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)
ist dahin auszulegen, dass
eine „automatisierte Entscheidung im Einzelfall“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn ein auf personenbezogene Daten zu einer Person gestützter Wahrscheinlichkeitswert in Bezug auf deren Fähigkeit zur Erfüllung künftiger Zahlungsverpflichtungen durch eine Wirtschaftsauskunftei automatisiert erstellt wird, sofern von diesem Wahrscheinlichkeitswert maßgeblich abhängt, ob ein Dritter, dem dieser Wahrscheinlichkeitswert übermittelt wird, ein Vertragsverhältnis mit dieser Person begründet, durchführt oder beendet.
Tatbestand
In der Rechtssache C-634/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland) mit Beschluss vom 1. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2021, in dem Verfahren
OQ
gegen
Land Hessen,
Beteiligte:
SCHUFA Holding AG,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von OQ, vertreten durch Rechtsanwalt U. Schmidt,
- – des Landes Hessen, vertreten durch Rechtsanwälte M. Kottmann und G. Ziegenhorn,
- – der SCHUFA Holding AG, vertreten durch G. Thüsing und Rechtsanwalt U. Wuermeling,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch P.-L. Krüger als Bevollmächtigten,
- – der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und Y. Thyregod Kollberg als Bevollmächtigte,
- – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, I. Oliveira, M. J. Ramos und C. Vieira Guerra als Bevollmächtigte,
- – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, F. Erlbacher und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. März 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 22 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 127, S. 2, im Folgenden: DSGVO).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OQ und dem Land Hessen (Deutschland) wegen der Weigerung des Hessischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (Deutschland) (im Folgenden: HBDI), gegenüber der SCHUFA Holding AG (im Folgenden: SCHUFA) zu verfügen, dass sie dem Begehren von OQ nach Auskunft und Löschung der sie betreffenden personenbezogenen Daten nachzukommen habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im 71. Erwägungsgrund der DSGVO heißt es:
„Die betroffene Person sollte das Recht haben, keiner Entscheidung – was eine Maßnahme einschließen kann – zur Bewertung von sie betreffenden persönlichen Aspekten unterworfen zu werden, die ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung beruht und die rechtliche Wirkung für die betroffene Person entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt, wie die automatische Ablehnung eines Online-Kreditantrags oder Online-Einstellungsverfahren ohne jegliches menschliche Eingreifen. Zu einer derartigen Verarbeitung zählt auch das ‚Profiling‘, das in jeglicher Form automatisierter Verarbeitung personenbezogener Daten unter Bewertung der persönlichen Aspekte in Bezug auf eine natürliche Person besteht, insbesondere zur Analyse oder Prognose von Aspekten bezüglich Arbeitsleistung, wirtschaftliche Lage, Gesundheit, persönliche Vorlieben oder Interessen, Zuverlässigkeit oder Verhalten, Aufenthaltsort oder Ortswechsel der betroffenen Person, soweit dies rechtliche Wirkung für die betroffene Person entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt. Eine auf einer derartigen Verarbeitung, einschließlic...