Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eigenmittel der Europäischen Union. Aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) kofinanziertes nationales Programm. In Durchführung dieses Programms vertraglich gewährte Beihilfen. Schutz der finanziellen Interessen der Union. Anwendungsbereich. Verfolgung von Unregelmäßigkeiten. Verjährungsfrist für die Verfolgung. Begriff der die Verjährung unterbrechenden Handlung. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beihilfen nach dem Privatrecht eines Mitgliedstaats
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 2988/95; Verordnung (EG) Nr. 2988/95 Art. 3
Beteiligte
Tenor
1.Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
ist dahin auszulegen, dass
die dort vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist unmittelbar auf eine sich nach den privatrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats richtende Rückforderung von durch die Europäische Union kofinanzierten Beihilfen anwendbar ist.
2.Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass
er es verwehrt, dass nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 auf Rückforderungen von durch die Europäische Union kofinanzierten Beihilfen eine durch eine privatrechtliche Bestimmung eines Mitgliedstaats eingeführte Verjährungsfrist von 30 Jahren angewandt wird.
3.Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff der der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachten „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung“ der zuständigen Behörde, die zur Unterbrechung der „Verfolgungsverjährung“ führt, außergerichtliche Handlungen wie einen Prüfbericht, eine Rückforderungsmitteilung, eine Zahlungserinnerung oder eine Mahnung umfasst, soweit der Adressat dieser Handlungen aus ihnen die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau entnehmen kann.
Tatbestand
In der Rechtssache C-734/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 17. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. November 2022, in dem Verfahren
Republik Österreich
gegen
GM
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von GM, vertreten durch Rechtsanwälte L. Peissl und J. Reich-Rohrwig,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Blanc, B. Hofstötter und A. Sauka als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Republik Österreich und der natürlichen Person GM über die Verjährungsfrist für die Rückforderung von Beihilfen, die zu Unrecht an GM gezahlt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Verordnung Nr. 2988/95 heißt es:
„… Es ist … wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Europäischen] Gemeinschaften zu bekämpfen.
Um die Bekämpfung des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften wirksam zu gestalten, muss ein allen Bereichen der Gemeinschaftspolitik gemeinsamer rechtlicher Rahmen festgelegt werden.“
Rz. 4
Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“
Rz. 5
Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 sieht vor:
„(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unreg...