Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung. Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte. Vernehmung von Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsanwalts in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens. Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens zu stellen. Nationale Regelung, die es einem Strafgericht erlaubt, seine Entscheidung auf die frühere Aussage dieser Zeugen zu stützen
Normenkette
Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 8 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47 Abs. 2, Art. 48 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem nationalen Gericht erlaubt, im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die bei einer Vernehmung vor einem Richter im Lauf der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands eingeholt wurde, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund vor, der das Nichterscheinen des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigt, die Aussage dieses Zeugen bildet nicht die einzige und entscheidende Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person und es bestehen hinreichende Kompensationen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand aufgrund der Berücksichtigung dieser Aussage entstehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen
HYA,
IP,
DD,
ZI,
SS,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von IP, vertreten durch H. Georgiev, Advokat,
- von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HYA, IP, DD, ZI und SS (im Folgenden zusammen: die fraglichen Angeklagten) wegen Straftaten im Bereich der illegalen Einwanderung.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren”) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht vor:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …
…
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
…
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
…”
Unionsrecht
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 22, 33, 34, 36, 41 und 47 der Richtlinie 2016/343 heißt es:
„(22) Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amt...