Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung. Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person. Möglichkeit, die Verletzung eines Rechts in einem späteren Verfahrensstadium zu beheben. Zusätzliche Vernehmung des Zeugen. Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren. Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Rechtsbeistands der beschuldigten Person
Normenkette
Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 8 Abs. 1; Richtlinie 2013/48/EU Art. 3 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs
sind wie folgt auszulegen:
Wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, genügt es, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand den Zeugen frei befragen können, sofern der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand vor dieser zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen übermittelt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Vernehmung, die in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen und die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen
DD,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen DD wegen Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2013/48
Rz. 3
Im 54. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 heißt es:
„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um ein höheres Schutzniveau zu bieten. …”
Rz. 4
Art. 1 („Gegenstand”) dieser Richtlinie bestimmt:
„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren … auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.”
Rz. 5
Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Str...