Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr der Rechtsanwälte. Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Abfassung förmlicher Urkunden, mit denen ein Recht an Grundstücken geschaffen oder übertragen wird, bestimmten Gruppen von Rechtsanwälten vorzubehalten. Regelung eines Mitgliedstaats, nach der die Echtheit der Unterschrift auf einem Grundbuchsgesuch notariell beglaubigt werden muss
Beteiligte
Leopoldine Gertraud Piringer |
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte ist dahin auszulegen, dass er auf eine Regelung eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der Echtheit von Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an Liegenschaften erforderlich sind, vorbehält und dadurch die Möglichkeit ausschließt, in diesem Mitgliedstaat eine solche, von einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt vorgenommene Beglaubigung anzuerkennen, keine Anwendung findet.
2. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die den Notaren die Vornahme von Beglaubigungen der Echtheit von Unterschriften auf Urkunden, die für die Schaffung oder Übertragung von Rechten an Liegenschaften erforderlich sind, vorbehält und dadurch die Möglichkeit ausschließt, in diesem Mitgliedstaat eine solche, von einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Rechtsanwalt im Einklang mit seinem nationalen Recht vorgenommene Beglaubigung anzuerkennen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 19. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2015, in dem Verfahren
Leopoldine Gertraud Piringer
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet und F. Biltgen,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Leopoldine Gertraud Piringer, vertreten durch die Rechtsanwälte S. Piringer, W. L. Weh und S. Harg,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard, M. Aufner und C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und D. Hadrouš ek als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller, D. Kuon und J. Mentgen als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego und V. Ester Casas als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und J. Treijs-Gigulis als Bevollmächtigte,
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte im Beistand von F. Moyse, avocat,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, D. Lutostanska und A. Siwek als Bevollmächtigte,
- der slowenischen Regierung, vertreten durch B. Jovin Hrastnik als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. September 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. 1977, L 78, S. 17) und von Art. 56 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Leopoldine Gertraud Piringer, einer österreichischen Staatsangehörigen, und dem Bezirksgericht Freistadt (Österreich) über dessen Weigerung, die beabsichtigte Veräußerung einer Liegenschaft in das österreichische Grundbuch einzutragen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 77/249 heißt es:
„Diese Richtlinie betrifft nur die Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung der Rechtsanwalttätigkeiten im freien Dienstleistungsverkehr. Eingehendere Maßnahmen werden erforderlich sein, um die tatsächliche Ausübung der Niederlassungsfreiheit zu erleichtern.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt innerhalb der darin festgelegten Grenzen und unter den darin vorgesehenen Bedingungen für die in Form der Dienstleistung ausgeübten Tätigkeiten der Rechtsanwälte.
Unbeschadet der Bestimmungen dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten die Abfassung förmlicher U...