Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Grundsätze des Unionsrechts. Art. 4 Abs. 3 EUV. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Verfahrensautonomie. Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Nationale Regelung, die einen außerordentlichen Rechtsbehelf vorsieht, der die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil beendeten Zivilverfahrens ermöglicht. Gründe. Spätere Entscheidung eines Verfassungsgerichts, mit der die Unvereinbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts, auf deren Grundlage das Urteil ergangen ist, mit der Verfassung festgestellt wird. Hinderung an der Mitwirkung infolge der Verletzung von Rechtsvorschriften. Extensive Anwendung des Rechtsbehelfs. Angeblicher Verstoß gegen das Unionsrecht, der sich aus einem späteren Urteil des Gerichtshofs zur Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 AEUV ergibt. Richtlinie 93/13/EWG. Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Versäumnisurteil. Keine Prüfung der etwaigen Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln von Amts wegen
Normenkette
EUV Art. 4 Abs. 3; Richtlinie 93/13/EWG
Beteiligte
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Profi Credit Polska S.A. w Bielsku Białej |
Tenor
1.Art. 4 Abs. 3 EUV und der Äquivalenzgrundsatz
sind dahin auszulegen, dass
sie – wenn es ein in einer nationalen Verfahrensvorschrift vorgesehener außerordentlicher Rechtsbehelf einem Einzelnen ermöglicht, die Wiederaufnahme eines Verfahrens, das zu einem rechtskräftigen Urteil geführt hat, unter Berufung auf eine spätere Entscheidung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats zu beantragen, mit der festgestellt wurde, dass eine Bestimmung des nationalen Rechts oder eine bestimmte Auslegung einer solchen Bestimmung, auf deren Grundlage das Urteil ergangen ist, mit der Verfassung oder einer anderen höherrangigen Norm unvereinbar ist – es nicht gebieten, dass dieser Rechtsbehelf auch für die Berufung auf eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zur Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 AEUV zur Verfügung steht, sofern sich die konkreten Folgen einer solchen Entscheidung des Verfassungsgerichts in Bezug auf die Bestimmung des nationalen Rechts oder die Auslegung einer solchen Bestimmung, auf der das rechtskräftige Urteil beruht, unmittelbar aus dieser Entscheidung ergeben.
2.Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts
ist dahin auszulegen, dass
es Sache des nationalen Gerichts ist, zu beurteilen, ob eine Bestimmung des nationalen Rechts, die einen außerordentlichen Rechtsbehelf vorsieht, der es einer Partei ermöglicht, die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil beendeten Verfahrens zu beantragen, wenn sie infolge der Verletzung von Rechtsvorschriften an der Mitwirkung gehindert war, erweiternd dahin ausgelegt werden kann, dass ihr Anwendungsbereich den Fall erfasst, in dem erstens das Gericht, das einem auf einen Verbrauchervertrag gestützten Antrag eines Gewerbetreibenden mit einem rechtskräftigen Versäumnisurteil stattgegeben hat, unter Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen davon abgesehen hat, diesen Vertrag von Amts wegen im Hinblick auf das etwaige Vorliegen missbräuchlicher Klauseln zu prüfen, und in dem sich zweitens herausstellt, dass die Verfahrensmodalitäten für die Ausübung des Rechts auf Einlegung eines Einspruchs gegen dieses Versäumnisurteil durch den Verbraucher das nicht zu vernachlässigende Risiko in sich bergen, dass der Verbraucher darauf verzichtet, und sie folglich nicht ermöglichen, die Wahrung der dem Verbraucher nach dieser Richtlinie zustehenden Rechte zu gewährleisten. Sofern eine solche erweiternde Auslegung aufgrund der Schranken, die die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die fehlende Möglichkeit einer Auslegungcontra legemdarstellen, nicht in Betracht kommt, gebietet es der Effektivitätsgrundsatz, dass die Wahrung dieser Rechte im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung des Versäumnisurteils oder eines gesonderten nachfolgenden Verfahrens gewährleistet wird.
Tatbestand
In der Rechtssache C-582/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy Warszawa-Praga (Regionalgericht Warschau-Praga, Polen) mit Entscheidung vom 31. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 17. September 2021, in dem Verfahren
FY
gegen
Profi Credit Polska S.A. w Bielsku Białej
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten F. Biltgen und N. Piçarra, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), der Richter S. Rodin und P. G. Xuereb, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter J. Passer und D. Gratsias,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: M. Sieki...