Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Massenentlassungen. Begriff des „Arbeitnehmers”. Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft. Im Rahmen einer Maßnahme zur Berufsbildung und beruflichen Wiedereingliederung tätige Person, die eine öffentliche Ausbildungsbeihilfe, aber keine Vergütung von Seiten des Arbeitgebers erhält
Normenkette
Richtlinie 98/59/EG Art. 1 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH |
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, die bei der Berechnung der in dieser Vorschrift genannten Zahl von Arbeitnehmern ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende unberücksichtigt lässt, das seine Tätigkeit nach Weisung und Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt, als Gegenleistung für seine Tätigkeit eine Vergütung erhält und selbst keine Anteile an dieser Gesellschaft besitzt.
2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 ist dahin auszulegen, dass eine Person wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die im Rahmen eines Praktikums ohne Vergütung durch ihren Arbeitgeber, jedoch finanziell gefördert und anerkannt durch die für Arbeitsförderung zuständigen öffentlichen Stellen, in einem Unternehmen praktisch mitarbeitet, um Kenntnisse zu erwerben oder zu vertiefen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren, als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeitsgericht Verden (Deutschland) mit Entscheidung vom 6. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Mai 2014, in dem Verfahren
Ender Balkaya
gegen
Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter S. Rodin (Berichterstatter), A. Borg Barthet und E. Levits sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Balkaya, vertreten durch Rechtsanwalt M. Barton,
- der Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt P. Wallenstein,
- der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und J. Enegren als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 225, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Balkaya und der Kiesel Abbruch- und Recycling Technik GmbH (im Folgenden: Kiesel Abbruch) über die Rechtmäßigkeit einer betriebsbedingten Kündigung, die Kiesel Abbruch anlässlich einer Betriebsstilllegung ausgesprochen hatte, ohne zuvor eine Massenentlassungsanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit erstattet zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 sieht vor:
„(1) Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
a) ‚Massenentlassungen’ sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen – nach Wahl der Mitgliedstaaten – die Zahl der Entlassungen
i) entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen
- mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern,
- mindestens 10 v. H. der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern,
- mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern,
ii) oder innerhalb eines Zeitraums von 20 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind,
beträgt;
b) ‚Arbeitnehmervertreter’ sind die Arbeitnehmervertreter nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten.
Für die Berechnung der Zahl der Entlassungen gemäß Absatz 1 Buchstabe a) werden diesen Entlassungen Beendigungen des Arbeitsvertrags gleichgestellt, die auf Veranlassung des Arbeitgebers und aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, erfolgen, sofern die Zahl der Entlassungen mindestens fünf beträgt.”
Rz. 4
Art. 3 der Richtlinie 98/59 bestimmt:
„(1) Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.
…
(2) Der Arbeitgeber...