Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Begriff ‚Europäischer Haftbefehl’. Mindesterfordernisse, von denen die Gültigkeit abhängt. Begriff ‚ausstellende Justizbehörde’. Von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ausgestellter Europäischer Haftbefehl. Status. Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses gegenüber einem Organ der Exekutive. Befugnis des Justizministers zu Einzelweisungen. Bewilligung des Europäischen Haftbefehls durch ein Gericht vor seiner Übermittlung
Beteiligte
Tenor
Der Begriff „Europäischer Haftbefehl” in Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die von den Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats ausgestellten Europäischen Haftbefehle unter diesen Begriff fallen, auch wenn die Staatsanwaltschaften im Rahmen der Ausstellung dieser Haftbefehle unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen werden können, sofern zwingend vorgeschrieben ist, dass die Haftbefehle, bevor sie von den Staatsanwaltschaften übermittelt werden können, von einem Gericht bewilligt werden, das Zugang zur gesamten, etwaige Anordnungen oder Einzelweisungen der Exekutive enthaltenden Ermittlungsakte hat, das in unabhängiger und objektiver Weise prüft, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung der Haftbefehle vorliegen und ob sie verhältnismäßig sind, und das damit eine eigenständige Entscheidung trifft, die den Haftbefehlen ihre endgültige Form gibt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 26. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am gleichen Tag, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
NJ,
Beteiligte:
Generalstaatsanwaltschaft Berlin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz, C. Vajda und A. Kumin,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des beim Gerichtshof am 26. Juni 2019 eingegangenen Antrags des vorlegenden Gerichts vom gleichen Tag, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Zweiten Kammer vom 15. Juli 2019, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann, J. Möller und A. Berg als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und J. Herrnfeld als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. September 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen NJ, der am 16. Mai 2019 von der Staatsanwaltschaft Wien (Österreich) ausgestellt und mit Beschluss des Landesgerichts Wien (Österreich) vom 20. Mai 2019 bewilligt wurde, in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der fünfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:
„Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar...