Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Änderung der gegebenen Informationen. Änderung der Beurteilung der Straftat. Verpflichtung, die beschuldigte Person rechtzeitig zu informieren und ihr Gelegenheit zu geben, zu der beabsichtigten neuen Beurteilung Stellung zu nehmen. Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte. Faires Verfahren. Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren. Unschuldsvermutung. Recht, sich nicht selbst zu belasten. Erfordernis der Unparteilichkeit des Strafrichters. Neubeurteilung der Straftat auf Initiative des Strafrichters oder auf Vorschlag der beschuldigten Person
Normenkette
Richtlinie 2012/13/EU Art. 6, 6 Abs. 4; Richtlinie (EU) 2016/343 Art. 3, 7 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47 Abs. 2
Beteiligte
BK (Requalification de l’infraction) |
Tenor
1.Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, ohne die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung zu unterrichten, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglichen, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und damit ohne dieser Person Gelegenheit zu geben, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass diese Beurteilung nicht zur Verhängung einer schwereren Strafe führen kann als die Straftat, derentwegen die Person ursprünglich verfolgt wurde.
2.Die Art. 3 und 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen ein in einem Strafverfahren in der Sache entscheidendes Gericht von sich aus oder auf Vorschlag der beschuldigten Person eine rechtliche Beurteilung der verfolgten Tat, die von der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen abweicht, vornehmen darf, dann nicht entgegenstehen, wenn dieses Gericht die beschuldigte Person rechtzeitig über die beabsichtigte neue Beurteilung unterrichtet hat, d. h. zu einem Zeitpunkt und unter Bedingungen, die es ihr ermöglicht haben, ihre Verteidigung wirksam vorzubereiten, und dieser Person damit Gelegenheit gegeben hat, die Verteidigungsrechte im Hinblick auf diese neue Beurteilung konkret und wirksam auszuüben.
Tatbestand
In der Rechtssache C-175/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 8. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen
BK,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: T. Ćapeta,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der tschechischen Regierung, durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, durch E. Rousseva und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. Mai 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das gegen BK wegen einer Tat geführt wird, die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ursprünglich als Bestechlichkeit beurteilt wurde, für die das vorlegende Gericht aber eine Einordnung als Betrug oder als illegale Einflussnahme in Betracht zieht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2012/13
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 3, 9, 14 und 27 bis 29 der Richtlinie 2012/13 heißt es:
„(3) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ...