Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Mitteilung von Änderungen der im Rahmen der Unterrichtung gegebenen Informationen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts. Unmöglichkeit für den Beschuldigten, in der mündlichen Verhandlung die im nationalen Recht vorgesehene Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zu beantragen. Unterschied bei Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts

 

Normenkette

Richtlinie 2012/13/EU Art. 6 Abs. 4

 

Beteiligte

Moro

Gianluca Moro

 

Tenor

Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung im Fall einer Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen kann, nicht aber bei einer Änderung der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Brindisi (Gericht Brindisi, Italien) mit Entscheidung vom 20. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 17. November 2017, in dem Strafverfahren gegen

Gianluca Moro,

Beteiligte:

Procura della Repubblica presso il Tribunale di Brindisi,

Francesco Legrottaglie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von F. Legrottaglie, vertreten durch D. Vitale, avvocato,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und G. Tornyai als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. M. de Ree als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, R. Troosters und C. Zadra als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Februar 2019

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie von Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Gianluca Moro (im Folgenden: Angeklagter) wegen „Hehlerei” von Schmuck nach italienischem Recht, wobei der Tatvorwurf später in der mündlichen Verhandlung auf „Diebstahl” dieses Schmucks umgeändert wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Charta

Rz. 3

Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte”) der Charta lautet:

„(1) Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.

(2) Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.”

Richtlinie 2012/13

Rz. 4

In den Erwägungsgründen 3, 4, 9, 10, 14, 27 bis 29, 40 und 41 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(3) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

(4) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften.

(9) Artikel 82 Absatz 2 [AEUV] sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Minde...

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