Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, an die Vereinigten Staaten von Amerika. Auslieferungsabkommen zwischen der Europäischen Union und diesem Drittstaat. Anwendungsbereich des Unionsrechts. Verbot der Auslieferung, das nur auf die eigenen Staatsangehörigen angewandt wird. Beschränkung der Freizügigkeit. Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit. Verhältnismäßigkeit. Benachrichtigung des Herkunftsmitgliedstaats des Unionsbürgers

 

Normenkette

AEUV Art. 18, 21

 

Beteiligte

Pisciotti

Romano Pisciotti

Bundesrepublik Deutschland

 

Tenor

1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, sofern dieser Bürger sein Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union ausgeübt hat und dieses Auslieferungsersuchen im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 gestellt wurde.

2. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, sind die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen, dass sie dem ersuchten Mitgliedstaat nicht verwehren, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und diese Auslieferung zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin mit Entscheidung vom 18. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2016, in dem Verfahren

Romano Pisciotti

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, J. Malenovský, E. Levits und C. G. Fernlund (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, J. C. Bonichot, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Pisciotti, vertreten durch Rechtsanwalt R. Karpenstein,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt F. Fellenberg,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
  • von Irland, vertreten durch M. Browne, L. Williams, E. Creedon und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. M. de Ree und M. Gijzen als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Nowak und K. Majcher als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. November 2017

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Romano Pisciotti, einem italienischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland zu einem an diesen Mitgliedstaat gerichteten Ersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika um seine Auslieferung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Das EU-USA-Abkommen

Rz. 3

Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 (ABI. 2003, L 181, S. 27, im Folgenden: EU-USA-Abkommen) legt in seinem Art. 1 Folgendes fest:

„Di...

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