Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz. Begriff ‚ernsthafte individuelle Bedrohung’ des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Nationale Regelung, die die Anforderung einer Mindestzahl ziviler Opfer (Tote und Verletzte) in der betroffenen Region vorsieht
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 15 Buchst. c
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er der Auslegung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts” im Sinne dieser Bestimmung in Fällen, in denen diese Person nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, voraussetzt, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht.
2. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung” im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist, eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, erforderlich ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Dezember 2019, in dem Verfahren
CF,
DN
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. November 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von CF und DN, vertreten durch Rechtsanwältin A. Kazak,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und D. Dubois als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Tomkin und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f und Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, Berichtigung ABl. 2017, L 167, S. 58).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen CF und DN, zwei afghanischen Staatsangehörigen, auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland – vertreten durch den Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat (Deutschland), seinerseits vertreten durch den Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) – auf der anderen Seite wegen der Ablehnung der Asylanträge von CF und von DN.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 6, 12, 13 und 33 bis 35 der Richtlinie 2011/95 heißt es:
„(6) In den Schlussfolgerungen von Tampere ist … festgehalten, dass die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft durch Maßnahmen zu den Formen des subsidiären Schutzes ergänzt werden sollten, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen.
…
(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.
(13) Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des ...