Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes. Berücksichtigung von Anhaltspunkten, die sich auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers sowie die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen. Humanitäre Lage

 

Normenkette

EURL 95/2011 Art. 15

 

Beteiligte

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Notion d’atteintes graves)

X

Y

ihre sechs minderjährigen Kinder

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

 

Tenor

1.Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde zum Zweck der Feststellung, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz Anspruch auf subsidiären Schutz hat, alle relevanten Anhaltspunkte zu prüfen hat, die sich sowohl auf die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers als auch auf die allgemeine Lage im Herkunftsland beziehen, bevor geklärt wird, welche Art von ernsthaftem Schaden anhand dieser Anhaltspunkte möglicherweise belegt werden kann.

2.Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die zuständige nationale Behörde bei der Beurteilung, ob tatsächlich die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden, wie er in dieser Bestimmung definiert ist, zu erleiden, andere Anhaltspunkte der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigen können muss als den bloßen Umstand, dass er aus einem Gebiet eines bestimmten Landes kommt, in dem im Sinne des Urteils des EGMR vom 17. Juli 2008, NA./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0717JUD002590407, § 115), die „extremsten Fälle allgemeiner Gewalt“ auftreten.

3.Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Intensität der willkürlichen Gewalt im Herkunftsland des Antragstellers das Erfordernis der Individualisierung des in dieser Bestimmung definierten ernsthaften Schadens nicht schwächen kann.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-125/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s-Hertogenbosch, Niederlande) mit Entscheidung vom 22. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2022, in dem Verfahren

X,

Y,

ihre sechs minderjährigen Kinder

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        von Y, X und ihren sechs minderjährigen Kindern, vertreten durch S. Rafi, P. J. Schüller und J. W. J. van den Broek, Advocaten,
  • –        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen, A. Hanje und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
  • –        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
  • –        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
  • –        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.-L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den libyschen Staatsangehörigen X, Y und ihren sechs minderjährigen Kindern auf der einen und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der anderen Seite über dessen Ablehnung ihrer Anträge auf internationalen Schutz.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 12, 16 und 34 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mi...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge