Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Begriff ‚justizielle Entscheidung’. Begriff ‚ausstellende Justizbehörde’. Vom Justizministerium der Republik Litauen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl
Beteiligte
Tenor
Der Begriff „Justizbehörde” in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts; Art. 6 Abs. 1 ist dahin auszulegen, dass ein Exekutivorgan wie das litauische Justizministerium nicht zur „ausstellenden Justizbehörde” im Sinne dieser Vorschrift bestimmt werden darf, so dass ein von ihm zur Vollstreckung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wird, ausgestellter Europäischer Haftbefehl nicht als „justizielle Entscheidung” im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung angesehen werden kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 2. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in einem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
Ruslanas Kovalkovas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 111 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom schriftlichen Verfahren abzusehen, und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Oktober 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, H. Stergiou und B. Koopman als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann, J. Möller und R. Riegel als Bevollmächtigte,
- der hellenischen Regierung, vertreten durch E. Tsaousi als Bevollmächtigte,
- der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, H. Shev und F. Bergius als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. Oktober 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der in den Niederlanden erfolgenden Vollstreckung eines vom Justizministerium der Republik Litauen (im Folgenden: litauisches Justizministerium) gegen Herrn Ruslanas Kovalkovas erlassenen Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in Litauen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 5 bis 9 des Rahmenbeschlusses lauten:
„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein’ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennun...